Wittgensteins Unschärfe oder die Machtchoreographie Putins
Die Lage spitzt sich dramatisch zu. Wladimir Putin trifft Entscheidungen, die wir vielleicht geahnt haben, aber doch nicht wirklich für möglich gehalten hätten. Beunruhigende, verstörende Tage.
In der letzten Woche war es noch eine diffuse Angst, ein alarmierendes Gefühl. Da wurde verhandelt, diplomatisch-taktisch nach Moskau geflogen, alles kleinstmöglich austariert, um die Gespräche in die richtige, friedliche Richtung zu lenken. Sätze wurden gesprochen, Sätze wurden interpretiert.
Wo fangen Kompromisse an? Wo hören sie auf?
Das meiste, Entscheidendes wurde wohl nicht ausgesprochen, blieb in Deckung im Gedankenkarussell von Wladimir Putin. Was dachte der Kremlchef bei den Krisentelefonaten und Besuchen? Ließ er sie, die Staatsmänner, anfliegen aus Frankreich, Deutschland, um sich seiner Bedeutung in Europa, in der Welt zu vergewissern? Wurde zum damaligen Zeitpunkt wirklich verstanden, was er, Putin, zu sagen hatte? Hörte der Westen, was der Osten fordert? Hörte der Osten, was für den Westen nicht verhandelbar ist? Wo fangen Kompromisse an? Wo hören sie auf?
Jetzt ist klar: Putin hat Ernst gemacht. Rückblickend kann man auf seine Machtinszenierung gucken und sagen, nichts passierte zufällig. Putin hatte den großen Rahmen gefordert in symbolträchtigen, prunkvoll ausgestatteten Sälen, an meterlangen Tischen. Da wurde das Hören, das Zuhören schwierig; das Antworten erst recht. Von Auftritt zu Auftritt wurden die Gesichtszüge härter, verbissener, die Haltung unnachgiebiger. Mit einer Kälte, die frösteln machte, sprach der Kremlchef zu den Mitgliedern des Nationalen Sicherheitsrates. Russischer Geschichtsunterricht wurde erteilt, um die Vergangenheit zu sortieren, ganz nach seinem Geschmack und Willen. Die Neuvermessung der Grenzen, die Neuvermessung der Welt.
Jeder Satz Wladimir Putins wird genauestens analysiert
Was nur spielt sich ab im Inneren von Wladimir Putin? Wer kann ihn beeinflussen, wer redet mit ihm: offen, ehrlich, ohne eigene Ambitionen? Auf wen hört er? Welche Leute arbeiten im Hintergrund, beraten ihn, feuern ihn an oder versuchen ihn wieder zu beruhigen, zu beschwichtigen? Jede Geste wird in diesen Stunden genau beobachtet, jedes Wort, jeder Satz genauestens analysiert.
Der Philosoph Ludwig Wittgenstein sezierte die Sprache, sezierte Sätze. 1922, vor hundert Jahren, wurde sein legendärer "Tractatus logico-philosophicus" veröffentlicht. Oft zitiert der Satz: "Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt." Und wenn Sprache das Handeln bestimmt, dann muss jeder Satz im Kopf abgewogen werden, bevor er artikuliert wird. Oder, anders formuliert: Sprache schafft und verändert Realität.
Die territorialen Grenzen liegen auf der Waagschale
Übertragen auf das, was gerade im Weltgeschehen passiert, könnte das heißen: Präsidenten und Kanzler formulieren kalkuliert, weil sie um die Grenzen wissen, um die sprachlichen, vor allem aber um die territorialen. Sie liegen auf der Waagschale.
Die hohe Kunst der Diplomatie liegt oft im Verbindlich-Unverbindlichen, in einem In-Between, mit einer Sicht, die nicht gestochen, sondern mit einem Weichzeichner versehen ist. "Kann man ein unscharfes Bild immer mit Vorteil durch ein scharfes ersetzen? Ist das unscharfe nicht oft gerade das, was wir brauchen?", fragt Ludwig Wittgenstein in seinen "Philosophischen Untersuchungen". Vielleicht weise Fragen. Ob sie aber auch bestehen können, wenn Panzer, Truppen Grenzen überschreiten und in aller Schärfe sichtbar sind?
