Nachgedacht: Warum immer nur Kritik statt ehrlichem Lob?
Im Kritisieren sind wir alle gut. Die Bahn, der DFB, die Regierung - Zielscheiben fürs Schimpfen gibt’s genug. Wie wäre es zwischendurch mal mit einem Kompliment?
Wir essen zu salzig, wir essen zu scharf, wir essen zu bitter, zu herb und zu fett. Aber die kleine milde Süße im Leben vernachlässigen wir sträflich. Spätere Historiker werden unsere Epoche - falls wir von ihr noch irgendetwas übriglassen - die Ära des Sodbrennens nennen.
Woran es gerade nicht fehlt in diesem Land, auf der Welt und überall: an Hass, an Wut, an Empörung und Gewalt. An übler Nachrede, Hochmut, Empfindlichkeit und ausgestrecktem Mittelfinger. An Scharfem, Bitterem, Ausgekotztem. Woran es gerade fehlt: an Freundlichkeit, an einem Lächeln, einem begütigenden Wort, einem kleinen süßen Lob.
Keine Kritik als höchstes Lob
Ein Freund (gut, dass es noch Freunde gibt, wenigstens als literarische Figuren) hat mir vor längerer Zeit von der kuriosen, womöglich aber weit verbreiteten Ansicht seiner damaligen Vorgesetzten erzählt: Wieso solle sie denn loben? Wenn sie nicht kritisiere, sei das doch schon Lob genug.
Sonstige Berichte aus meinem Freundeskreis - auf die ich angewiesen bin, da ich selbst ja nur im Wald spazieren gehe und nachdenke, von den üblichen Bedrängnissen des Berufslebens also kaum etwas mitbekomme - verdichten sich wiederum zum Eindruck, dass inzwischen in den Chef-Etagen weithin der genau umgekehrte Weg gegangen wird: Da wird den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern großflächig Zuckersand in ihre hochgeschätzten Gehörgänge gestreut, so dass die eigentlichen Botschaften schon gar nicht mehr durchdringen.
Kritik in viele süße Worte verpackt
Diese Form der Kommunikation - schlechte Nachrichten in ein XXL-Kostüm aus Komplimenten zu kleiden - kommt aus den USA. Daniel Kehlmann zeichnet sie sehr hübsch in seinem neuen Roman "Lichtspiel" nach. Da tritt auf einer Gartenparty der Hollywood-Produzent zum aus Österreich emigrierten Filmregisseur und sagt ihm: "Ich hab dein Skript gelesen. Ich liebe es, Red liebt es auch. Und Dan liebt es erst." Der Regisseur strahlt hoffnungsfroh, und der Produzent fährt fort: "Es ist zu ernst, und die Hauptfigur ist nicht liebenswert genug, aber wir haben es so gern gelesen!" Und für einen Moment nur, einen kurzen Augenblick der Ehrlichkeit, verschwindet das Lächeln im Gesicht des Regisseurs…
Das zurückhaltend dosierte Lob, das man ernst nehmen kann, weil es nicht verschwenderisch verstreut wird, das herzliche Lob aus Freude statt aus Kalkül - dieses Lob ist rar.
Kritik steht immer an erster Stelle
Nach der Geiselnahme in Hamburg am vergangenen Wochenende erhob sich spornstreichs heftige Kritik am Sicherheitskonzept des Flughafens. Groß war das Entsetzen darüber, dass ein einzelner bewaffneter Mensch mit seinem Auto bis aufs Rollfeld gelangen konnte und dafür nicht sehr viel mehr benötigte als pure Entschlossenheit.
Solange sie nicht dem Trugschluss aufsitzt, es könne absolute Sicherheit geben, ist diese Kritik gewiss angebracht. Aber hätte im Moment der Erlösung, nach der Befreiung des kleinen Kindes aus der Gewalt seines Vaters, nicht zunächst alle Aufmerksamkeit der unglaublich großartigen Leistung der Polizei gelten dürfen?
Manchmal ist einfach Zeit, um "Danke" zu sagen
18 Stunden lang hatten speziell geschulte Kräfte mit dem Mann verhandelt, von dem sie nicht wissen konnten, wie er sich in dieser psychischen Ausnahmesituation und unter der Last zunehmender Müdigkeit verhalten würde. Sie verhandelten mit bewundernswerter Geduld. Im Wissen, dass sie keinen Fehler machen durften: Das Leben eines Kindes hing von ihrem Geschick ab. Das Leben wurde gerettet. Es gibt mitunter Augenblicke, in denen man nichts tiefer empfindet als das Bedürfnis, "Danke" zu sagen. Für Kritik ist später noch Zeit genug.
Der Schweizer Autor Iso Camartin hat mal geschrieben: "Wer im Leben nichts zu loben hat, führt ein trauriges Dasein." Wir aber wollen doch von Zeit zu Zeit und trotz allem einigermaßen fröhlich loben, äh, leben.
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