NDR Kultur Literaturredakteur Alexander Solloch vor einer Backsteinwand. © NDR Foto: Manuel Gehrke
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AUDIO: Nachgedacht: Arbeitskampf und Faulheitsdrang (4 Min)

Nachgedacht: Arbeitskampf und Faulheitsdrang

Stand: 08.03.2024 06:00 Uhr

Faul sein ist wunderschön, aber leider nicht vorgesehen. Ist denn aber Arbeit tatsächlich die Lösung? Alexander Solloch weiß ja nicht ...

von Alexander Solloch

Es ist allgemein bekannt, dass der Menschheit Unheil erspart bliebe, wenn sie zum größten Teil einfach im Bett verharrte, oder am besten: vollständig. Wer ruht, schläft, träumt und liebt, führt keinen Krieg - und schon sind alle Probleme gelöst.

Ganz so leicht ist es natürlich nicht: Es braucht ja Lokomotivführer, die uns dorthin fahren, wo unsere Betten stehen - und schon haben wir wieder Geschäftigkeit, Hektik, Streik und Streit. Schlimmer noch: einen Streikstreit, von dem man nicht genau weiß, wer denn hier der Halunke ist - sowas macht einfach keinen Spaß. An den vielen persönlichen Vorwürfen gegen den Gewerkschaftschef Weselsky ist mutmaßlich nicht alles falsch; aber es ist doch sehr zweifelhaft, ob nun ausgerechnet die Bahnvorstände in den letzten Jahren ein solches Vertrauenskapital angespart haben, dass sie legitimiert wären, den Kontrahenten zu diskreditieren. Immerhin kann man diagnostizieren, dass Weselsky bei der Ankündigung der "Wellenstreiks" einwandfrei bewiesen hat, über den besseren Humor zu verfügen: "Damit ist die Bahn kein zuverlässiges Verkehrsmittel mehr", sagte er. "Damit". Sehr amüsant, auf eine stille Weise.

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Welchen Sinn hat unsere Arbeit überhaupt?

Wenn es nun am Ende um eine Stunde Arbeitszeit mehr oder weniger pro Woche geht, erhebt sich, neben den vielen praktischen und von erwachsenen Menschen offenbar nicht zu lösenden Problemen, auch die eine grundlegende philosophische Frage: Welchen Sinn hat unsere Arbeit überhaupt, da all unser Trachten darauf ausgerichtet ist, sie zu reduzieren? Wenn wir mit größter Verbissenheit darum kämpfen, dass sie, wenn auch nur minimal, weniger wird? Die Antwort ist logisch und bitter: Wir (genauer: sehr viele von uns) verbringen einen Großteil unseres Lebens mit einer Tätigkeit, die uns kaum mehr bedeutet als Ärger und Verdruss, weil sie uns von uns selbst entfremdet, vom Bild, das wir uns einst vom Leben, wie es sein sollte, machten.

Es gibt für diesen Konflikt weder eine gewerkschaftlich herstellbare noch - einstweilen - eine philosophische Lösung. Lokomotiven müssen ja gefahren, Steuererklärungen müssen bearbeitet, Kolumnen müssen geschrieben werden. Aber auch 35 Stunden in der Woche eine Lokomotive zu fahren, ist noch unerträglich viel, wenn im Lokomotivfahren an sich kein Sinn erkannt werden kann. Wenn es - vielleicht auch aufgrund absurder Dienstpläne, vielleicht aufgrund extrem störungsanfälliger Triebwagen - nur als lästige Pflichtaufgabe gelten kann und nicht vor allem auch als Spiel, in dem man freudig um die Ecke knattert. Musiker gibt's, die sagen - wenn sie das nicht allzu häufige Glück haben, sich von ihrer Musik ernähren zu können -, sie seien froh, nicht mehr arbeiten zu müssen. Wie bitte? Dann wäre ihr Komponieren, ihr Proben, ihr Auftreten keine Arbeit? "Natürlich nicht", sagen sie: "Wir arbeiten nicht, wir spielen."

Die Aufwertung der Faulheit

Es ist Zeit für eine Desakralisierung der Arbeit, der Pflicht, der Vernunft, des Bitternötigen - also: Zeit für eine Aufwertung der Kontemplation, des Müßiggangs, der... ja, sprechen wir es ruhig aus, dieses Wort, das die strebsamen Nackenhaare der zivilisierten Menschen in Alarmbereitschaft versetzt: Zeit für eine Aufwertung der Faulheit. "Die Untätigkeit ist eine Glanzform der menschlichen Existenz", schreibt der Philosoph Byung-Chul Han in seiner "Vita Contemplativa": "Sie bildet das Humanum. Der Anteil der Untätigkeit am Tun macht dieses genuin menschlich."

Wenn wir in diesem Jahr fleißig Immanuel Kant zum 300. Geburtstag loben und preisen, wollen wir nicht vergessen, dass er - der reinen Vernunft zum Trotz oder gerade infolge reiner Vernunft - auch nicht immer vor Fleiß barst. Konrad Paul Liessmann nennt ihn in seinem Essay "Mut zur Faulheit" gar den "faulsten Philosophen", weil er, kaum dass er eine Professur bekommen hatte, zehn Jahre lang nichts mehr publizierte. Allerdings hat Kant, wie sich dann noch zeigen sollte, diese zehn Jahre mit Nachdenken ganz gut verbracht: Danach konnte er seine drei Hauptwerke schreiben, die die Philosophie revolutionierten.

So wird es auch gelingen, die Welt der Arbeit zu revolutionieren und sie in ein harmonisches Bündnis mit der Untätigkeit zu bringen. Wie das geht? Ich sag's euch - wenn ihr mir nur zehn Jahre Faulheit genehmigt.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | NachGedacht | 08.03.2024 | 10:20 Uhr

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