Olaf Scholz spricht im Bundestag. © picture alliance/dpa | Kay Nietfeld

NachGedacht: Kriegs-Kanzler Scholz und die "Öffentlichkeit"

Stand: 03.06.2022 06:00 Uhr

Na, heute schon Scholz gebasht? Der Mann kann machen, was er will. Liefert er keine Waffen, ist es nicht recht. Will er liefern - auch nicht. Ulrich Kühn denkt nach.

von Ulrich Kühn

Wenn wir so weitermachen, gebären wir bald unter Getöse das winzigste Diskussiönchen der Welt. Frei von Sachlichkeit wird es den ersten Krächzer tun, und wo einer waschechten Diskussion die Argumente wachsen, werden dicke Lücken klaffen. Und wir? Wir werden uns mit glasigem Blick über das Kleine beugen und jubeln: "Hurra, eine Riesendebatte!"

Olaf Scholz: Der "Kafka-Kanzler"?

Es tut ein bisschen weh, dass man zur spekulativen Beweisführung ausgerechnet die geschätzte ZEIT heranziehen könnte, genauer, die Online-Version der ZEIT. Dort hat ein sehr namhafter und respektierter Kommentator in flottierendem Furor den "Kafka-Kanzler" Scholz erfunden. Dieser Kanzler mit seiner verschleiernden Politik sei "auf dem besten Wege, Deutschland eine dritte Kriegsschuld seit 1914 aufzuladen". Na, hoppla.

Man hat sich daran gewöhnt, dass die Diskursmacher einander jetzt immerzu vorwerfen, Schlafwandler zu sein: wahlweise Schlafwandler in den Dritten Weltkrieg oder aber Schlafwandler ins von Putin unterjochte Europa. Je nachdem, ob man für richtig hält, dass die Ukraine schwere Waffen geliefert bekommt oder nicht. Allerdings, als sich der Urheber der breitgetrampelten Schlafwandler-Metapher selbst zu Wort meldete, der Historiker Christopher Clark, der den Weg in den Ersten Weltkrieg als Versagen schlafwandelnder Politiker nachgezeichnet hatte, als Clark ganz unspektakulär den Kanzler lobte, weil der in der Krise abwägend agiere - da hörte schon keiner mehr hin. Die Lust, dem Kafka-Kanzler das Übel des Kriegs anzulasten, war vielleicht zu groß.

Allerdings muss man schon sagen, dass die Scholz-Kritik mal besser, mal weniger gut gelingt. Die "Kriegsschuld des Unterlassens", die der Kanzler auf sich laden könnte, als "dritte Kriegsschuld" in eine Reihe zu stellen mit den für sich schon höchst unterschiedlichen Schuldverstrickungen Deutschlands in Sachen Erster und Zweiter Weltkrieg - das muss man sich trauen. Früher hätte man es vielleicht lieber gelassen. Heute nicht mehr. Denn wehe dem Kommentar, der nicht in schrillsten Farben daherkommt. Es kräht kein Hahn danach.

Die Kunst des Debatten-Gebärens

Fantasieanregend war immerhin die Vermutung des Kommentators, viele Osteuropäer müssten sich angesichts der Berliner Ukraine-Politik vorkommen wie bei der Lektüre von Kafkas "Prozess". Blöd nur, dass in den Stunden, als der Kommentar auf ZEIT online schon Wellen schlug, plötzlich der Ich-kann-auch-anders-Kanzler auftrat und im Bundestag zum Leidenschafts-Monster mutierte. In seiner Replik auf Oppositionsführer Merz, diesen schlawinernden Frage-Tänzler, bot der Herr Scholz manuskriptfrei ein gar nicht kafkaeskes Schauspiel offenen parlamentarischen Schlagabtauschs, um dann genau das anzukündigen, was er angeblich kriegsschuldhaft unterließe: Lieferung schwerer Waffen. Mit Scholz gesagt: sogar "hochschwerer" Waffen.

Dass aus dem Bundes-Olaf in diesem oder einem künftigen Leben kein hoch-schwerer oder tief-leichter Redner mehr wird und auch kein Transparenzweltmeister, ist beklagenswert. Da ist vieles kritikwürdig, keine Frage. Man wünschte sich für diese Zeit einen Tiefgang-Virtuosen der Klarheit, einen Rhetor, der in der Superschwergewichts-Schlagfertigkeitsklasse alle zu Boden schickt. Kann sein, dass Habeck dieses Kanzler-Ass wäre. Wir haben halt nur den Scholz. Was allerdings ZEIT ONLINE, kaum, dass der Kanzler den Kommentator widerlegt hatte, in einem Folgekommentar publizierte, wirkte etwas putzig. Da hieß es, dieser Scholz kämpfe ja im Bundestag "gegen die Öffentlichkeit". Interessant, oder? Halten ZEIT-Kommentatoren sich und ihre kanzlertadelnden Kolleginnen für "die Öffentlichkeit", also für Öffentlichkeit schlechthin? Und wenn der Kanzler sie öffentlich widerlegt - das wäre dann sein Kampf gegen "die Öffentlichkeit"? Ja, darüber soll man nun diskutieren? Man muss vor allem daraufkommen. Dass man tatsächlich draufkommt - das ist kein supertolles Zeichen für die Kunst des Debatten-Gebärens in unser aller Öffentlichkeit.

 

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Ulrich Kühn, Claudia Christophersen und Alexander Solloch. © NDR Foto: Christian Spielmann

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Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Welle Nord | NachGedacht | 03.06.2022 | 10:20 Uhr

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Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

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