NDR Kultur Literaturredakteur Alexander Solloch vor einer Backsteinwand. © NDR Foto: Manuel Gehrke

NachGedacht: Krieg und Kriegskitsch

Stand: 03.03.2022 17:24 Uhr

Der russische Angriff auf die Ukraine macht uns alle fassungslos; aber der Überschuss an plötzlich aufwallenden Gefühlen hilft uns auch nicht weiter, meint Alexander Solloch in seiner Kolumne.

von Alexander Solloch

"Krieg in Europa" titelten vor einer Woche nahezu alle Zeitungen und Nachrichtenportale. Das war zwar nicht falsch, aber es stimmte auch nicht ganz. Richtig ist und bleibt natürlich, dass die Ukraine in Europa liegt. Aber Georgien zum Beispiel, das schon vor knapp 14 Jahren Bekanntschaft mit Russlands Truppen schloss, wird auch bewohnt von Menschen voller europäischer Empfindungen. Man könnte glatt sagen: Hier, an der Schwelle zu Asien, fängt Europa an!

"Krieg in Europa"-Fanfaren gab es damals jedoch nicht. Tiflis ist eben weiter entfernt und die Regierung weniger sympathisch. Die Menschen, die dort den russischen Hegemonieansprüchen zum Opfer fielen, sind dennoch denselben elenden Tod gestorben wie jetzt die in der Ukraine. Als Europäer, wichtiger: als Menschen.

Zeitenwende in der Geschichte des modernen Journalismus

"Krieg in Europa", was will uns diese Phrase denn sagen? Vielleicht: "Jetzt ist es passiert. Großer Gott, jetzt sind wir im Krieg. Wie 1914. Wie 1939. Wir. Krieg. Bei uns. Bomben, Angst, Tränen, unsere Kinder. Zeitenwende. Mitten in Europa. Wir."

Diese Überemotionalität, der womöglich, wenn wir ganz ehrlich sind, das eine oder andere leicht egozentrische Spurenelement beigemengt sein mag, vielleicht gar ein ganz gelinder wohliger Schauer auch, darf doch bitte die eine Wahrheit nicht verschleiern: Opfer sind nicht wir in unseren gemütlichen Stuben, Opfer sind die Menschen in der Ukraine.

Das hat sehr treffend die Frankfurter Allgemeine Zeitung mit ihrer Schlagzeile nach dem russischen Einmarsch ausgedrückt. Nicht: "Krieg in Europa", sondern: "Russland überfällt die Ukraine". Eine Zeitenwende in der Geschichte des modernen Journalismus: einfach mal die Dinge so beschreiben, wie sie sind - und klingen sie dann nicht etwa besorgniserregend genug? Muss man den Horror noch eigens vergruseln? Genau das ist ja das Wesen des Kitsches: dass er das Süße zu überzuckern, das Düstere noch zu verdunkeln sucht. Klüger macht er leider nicht, er verkleistert unsere Gedanken und nimmt ihnen jede Präzision.

Bebende Empörung und innere Kränkung

Der Kriegskitsch zeigt sich jetzt in verschiedenen Spielarten. Zuerst tritt die bebende Empörung auf, die da, wo ein Zweisilber wie "Putin" schon vollkommen ausreichen würde, gar nicht genug Begriffe aus dem Wortfeld "Diktator", "Despot", "Tyrann" aufeinanderhäufen kann. Oder: "Lügner!" "Wir wurden eiskalt angelogen", klagte die Bundesaußenministerin und wusste damit von einem absoluten Novum in der Geschichte der Diplomatie zu berichten.

Eng verwandt ist die Empörung mit der inneren Kränkung, die aus der plötzlichen Entdeckung erwachsen ist, dass es sich bei Putin gar nicht um einen übermäßig liebenswürdigen Menschen zu handeln scheint. Das hätte der FC Schalke 04 nun echt nicht gedacht! Anekdotisches etwa über die Zerstörung Tschetscheniens, die mörderische Verfolgung russischer Oppositioneller, die Annexion der Krim oder die Hilfe für Assad in Syrien war ja nun mal leider im "kicker" nie zu lesen. Also zündet der benachbarte Ballspielverein Borussia Dortmund die nächste Kitsch-Eskalationsstufe - unter Kitschkennern "Solidaritätskitsch" genannt - und regt in Person von Geschäftsführer Watzke an, der Fußball müsse den Schalkern nach ihrer Trennung vom Hauptsponsor Gazprom helfen.

Klugheit statt Gesinnungsbeweis

Der BVB kann aber auch hart: Gerhard Schröder ist jetzt kein Ehrenmitglied mehr, und auch der DFB hat dem Altkanzler ein Ultimatum gestellt. Mit jemandem befreundet zu sein, der Aleppo bombardiert, geht wohl noch konform mit der DFB-Satzung, aber jetzt haben wir "Zeitenwende", und da hört's auf. Nur, am Ende ist die Ent-Ehrung Schröders durch den deutschen Fußball oder die Entlassung des Dirigenten Gergiev durch die Stadt München nach jahrelangem Weghören und Wegschauen auch nichts anderes als opportunistischer Gratismut.

Klugheit und Besonnenheit sind jetzt vielleicht wichtiger als demonstratives Haltungsbekenntnis. Es kommt nicht darauf an, mit welchem Statement ich der Welt auch heute meine gute Gesinnung beweisen könnte. Die Frage lautet doch eher: Wie können wir den Menschen in der Ukraine helfen - und wie denen in Russland, denen die Aufgabe zufällt, an einer Zukunft ohne Putin zu arbeiten?
Her also bitte mit den guten Gedanken, hinfort mit den großen Gefühlen, und nehmt, wenn ihr verschwindet, den Despoten, den Tyrannen, den Unterdrücker, am liebsten gleich mit!

 

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NDR Kultur | NachGedacht | 04.03.2022 | 10:20 Uhr

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