Claudia Christophersen © NDR Foto: Christian Spielmann

NachGedacht: Himmel ohne Vögel - die Macht der Meinungen

Stand: 06.05.2022 09:53 Uhr

In dieser Woche wird die Meinungsfreiheit großgeschrieben. Gerade die momentane Kriegslage in der Ukraine fordert das wahre Wort heraus oder das Engagement dafür. Doch was ist wirklich wahr? Eine Kolumne von Claudia Christophersen.

von Claudia Christophersen

Was ist wirklich wahr? Eine große philosophische Frage. Und wie werden aus irrwitzigen Behauptungen plötzlich Tatsachen? "Birds aren't real" - eine Idee, die aus den USA kommt und dort für Wirbel sorgt.

Was fliegt da eigentlich mit flatternden Flügeln über unseren Köpfen? Von frühmorgens, wenn es hell wird, bis abends, wenn sich der Tag wieder eindunkelt. Dumme Frage, sagen Sie. Tatsächlich würde jede und jeder sofort antworten: Solche fliegenden Wesen, das sind natürlich Vögel. In den USA ist man da gar nicht so sicher. Dort kursiert seit ein paar Jahren die Mär, es gibt keine Vögel, die hat man schon vor Jahrzehnten alle abgeschossen. Trotzdem fliegt etwas herum, das so aussieht wie Vögel. Es sind aber keine. Das, was da fliegt, sind Drohnen, Spionage-Drohnen des Geheimdienstes CIA. Sie fliegen kreuz und quer durchs Land, von Maine nach Kalifornien, von Minnesota nach Texas, hin und zurück, von oben nach unten, sie beherrschen das ganze weite Himmeldach. Keine Tauben, keine Amseln - KEINE Vögel - es sind getarnte Drohnen mit denen Jim und John, Elli und Su überwacht werden, nicht nur sie, einfach alle, immer und überall.

"Birds aren't real" - Verschwörungserzählung in den USA

Was für eine schaurige Idee, eine Idee, die ein junger Mann ins grenzenlose Karussell der Verschwörungsmythen geworfen hat. Um ein Zeichen zu setzen: X-beliebige Behauptungen, die mit wenigen Worten rasend schnell verbreitet werden, auch mit dem Vögelchen, dass zwitschert und twittert. Nachrichten, die sich mit ein bisschen Nachdruck stabil halten, die als Wahrheit gefeiert werden und zur realen Wirklichkeit mutieren. "Es gibt keine Vögel" - das alles ist eine komplett erfundene Verschwörungserzählung von einem Mann namens Peter McIndoe. Warum dieser Zirkus? Er hatte es einfach satt, die unzähligen sogenannten Wahrheiten über sich rieseln zu lassen, da hat er selbst eine so absurde Idee in die Welt gesetzt. Und sein "Wake up"-Ruf hat Erfolg. In den Sozialen Netzwerken folgen dem Vogel-Guru Hundertausende und machen mit bei der ironisierenden Bewegung gegen Falschinformationen, sie tragen Sticker, T-Shirts, Mützen mit dem Slogan: "Birds aren't real" und erreichen damit immerhin ein Nachdenken über schnell geschriebene und laut posaunte Meinungen, die am Ende oft wenig mit so etwas wie Wahrheit zu tun haben.

Studie zeigt: Falschmeldungen sind sexy

Zum Internationalen Tag der Pressefreiheit am 3. Mai hatte die Süddeutsche Zeitung diese Geschichte wieder ausgegraben und legte mit einer Studie nach: Falschmeldungen sind sexy. Sie verbreiten sich, so das M.I.T. in Boston, sechs Mal so schnell wie echte Nachrichten und erreichen 1.000 Mal mehr Nutzer als langweilige echte Tatsachennachrichten. Das sind keine guten Zahlen, gerade jetzt in Zeiten des Krieges, in denen merklich schnell Standpunkte, ohne kurzes Innehalten, verlassen werden und zu neuen mutieren. Was ist richtig, was ist zu tun, was ist zu denken, ethisch, moralisch zu vertreten? Der Krieg in der Ukraine fordert uns alle heraus.

Sorgfältige Ruhe und scharfer Verstand im Sinne Habermas'

Auch der große deutsche Denker Jürgen Habermas hat sich jüngst geäußert. Er ist alarmiert, nicht allein ob der Gefahr, sondern auch darüber, wie mit ihr umgegangen wird. Schon Anfang der 1980er Jahre hatte Habermas "Die Neue Unübersichtlichkeit" diagnostiziert. Im weiten Meer der Meinungen sah er damals Konturen verloren gehen, weil Utopien sich erschöpften, Ideale ermüdeten. Das lockte die neuen Konservativen, die im festen Meinungskorsett saßen und ganz genau wussten, wie und wo sie den roten Faden auslegen mussten. Heute hört der Philosoph den schrillen Ton, sieht das vorschnell gefasste Urteil. Habermas hat kein Rezept für ein Ende dieses Krieges, nur das Wissen darum, dass gute Gründe gründlich abgewogen werden müssen, mit sorgfältiger Ruhe und scharfem Verstand.

Weitere Informationen
Ulrich Kühn, Claudia Christophersen und Alexander Solloch. © NDR Foto: Christian Spielmann

NachGedacht

Unsere Kolumnisten lassen die Woche mit ihren Kulturthemen Revue passieren und erzählen, was sie aufgeregt hat. Persönlich, kritisch und gern auch mit ein wenig Bösartigkeit gespickt. mehr

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | NachGedacht | 06.05.2022 | 10:20 Uhr

NDR Kultur App Bewerbung

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur Livestream

Das Journal

16:00 - 18:00 Uhr
Live hörenTitelliste