NachGedacht: Deutsche Bahn oder Joggen für Deutschland
Schon das Neun-Euro-Ticket genutzt? Feine Sache. Wenn nur nicht all die Leute wären. Zum Glück gibt es auch den ICE, diesen schleichenden Quell der Freude, findet Kolumnist Ulrich Kühn.
Man soll ja beim Joggen ab und zu eine extra-langsame Einheit einlegen. Als ich mir das jüngst zu Herzen nahm und neben einem freundlichen ICE quer durch Niedersachsen trabte, liefen mir sogar meine Gedanken davon. Ich hätte hinterherrennen können, um sie einzufangen. Aber was hätten die Leute im ICE gedacht? Wow, der ist schneller als die Bahn? Die Leute sind nicht blöd. Sie hätten gedacht: Man erwartet nicht mehr viel von der Deutschen Bahn, aber dass jetzt schon mitteltrainierte Kopfarbeiter Hochgeschwindigkeitszüge abhängen - irgendwie frustrierend.
Als mir klar wurde, dass die ICE-Insassen so denken würden, fühlte ich die Last der staatsbürgerlichen Verantwortung. Wir alle können beeinflussen, wie sich die Stimmung im Land entwickelt! Wäre ich dem ICE davongerannt, hätte ich das beliebte "Narrativ" gefüttert, demzufolge in Deutschland nix mehr funktioniert. Woran, je nach Gefühlslage, schuld sind: die Boomer, die Generationen X, Y oder Z, selbstherrliche Männlichkeit, politische Korrektheit, der globalisierte Kapitalismus oder die Politik. Also immer die anderen.
Von Anarchie auch nicht weit entfernt
In dieser Lage rennt ein guter Staatsbürger nicht schneller, als der ICE fährt. Ich hätte ja sehenden Auges die Neigung zur Anarchie im Lande befördert. Wobei gesagt werden muss, dass die Art, wie die Deutsche Bahn befördert, von Anarchie auch nicht weit entfernt ist.
Zum Beispiel wurde ich neulich beim Umsteigen im Hauptbahnhof Würzburg stehengelassen. Ich wartete in der Einstiegs-Schlange, als mit Karacho die Türen zufielen. Der junge Mann vor mir kam auch nicht mehr rein. Wir riefen: "Stopp, wir müssen mit!", der junge Mann brüllte: "Mein Kind ist da drin, öffnen Sie, mein Kind ist da drin!" Der Bahnmensch in Uniform fertigte ungerührt den Zug ab - ich weiß jetzt, warum man so sagt: den Zug abfertigen -, und der Zug rollte los. Wir rannten den Bahnsteig hoch, schneller als der ICE, der Uniformträger war schon verschwunden. Ein mutiger Revolutionär, der ganz bestimmt nur seinen Job riskiert hat, um durch diese spektakuläre Aktion auf Missstände bei der Bahn hinzuweisen.
Die Bahn kann auch anders
Den Mann ohne Kind habe ich wiedergetroffen, in einem späteren Zug, der uns doch noch nach München brachte. Ich erzählte bei der Ticketkontrolle vom Bahnsteig-Erlebnis, mein Leidensgenosse hörte mit, drehte sich um, gab sich zu erkennen: Er sei der Mann mit dem Kind, das übrigens drei Jahre alt sei. Oh, da hätten Sie die Zugbegleiterin hören sollen: Sie an Stelle des jungen Vaters würde den Kollegen Zugabfertiger verklagen! Das erinnerte mich an einen anderen Bahnmenschen, den ich in einem Regionalzug erlebt hatte, als er telefonierend vergebens versuchte, Informationen über Anschlusszüge zu erhalten. "Eine Scheiß-Bahn sind wir geworden!", hatte der Mann ausgerufen.
Ich fahre oft Bahn, ich könnte viele wahre Geschichten hinzufügen. Ich bin aber für Ausgewogenheit und möchte deshalb erwähnen, dass die Bahn auch anders kann. Auf der Rückfahrt von München erreichte ich per Zufall gerade noch meinen Zug, der "baustellenbedingt" 25 Minuten verfrüht abfuhr. Richtig verstanden, 25 Minuten verfrüht. In der App, die sich DB Navigator nennt, war ein kryptischer Hinweis vermerkt, den viele, so wie ich, nicht verstanden hatten. Der eigentlich überbuchte Zug blieb angenehm leer.
Land der Traber und Denker
So verschafft uns die Bahn auch entspannte Momente, und das ist sehr zu loben. Als ich vor ein paar Tagen einen hübschen Text über den japanischen Shinkansen-Zug las, wurde ich trotzdem ein bisschen traurig. Dieser Zug ist sagenhaft pünktlich, meistens auf die Sekunde. Aber können wir das wirklich wollen? Einen Zug, neben dem sich nicht her joggen lässt, der schneller ist als die eigenen Gedanken? Wir sind das Land der Traber und Denker! Wir lassen uns nicht hetzen. Wir haben die Bahn, die genau zu uns passt.
P.S.: Wie kam der Vater wieder ans Kind? Glück gehabt, ein Bekannter war vor ihm in den Zug geschlüpft, man traf sich in München. Dreijährig zufallsbegleitet – der neue Gold-Status der Deutschen Bahn.