NDR Kultur Literaturredakteur Alexander Solloch vor einer Backsteinwand. © NDR Foto: Manuel Gehrke

NachGedacht: Älteste wissenschaftliche Erkenntnisse

Stand: 24.03.2022 12:29 Uhr

Seit einem Monat wütet der Krieg in der Ukraine - keine Lösung in Sicht. Alexander Solloch sucht, müde geworden, nach letzten Gewissheiten.

von Alexander Solloch

Schon wieder eine Kolumne, die uns keiner Antwort näherbringt - jedenfalls keiner Antwort auf die bohrendsten Fragen unserer Zeit: Wer gebietet Assad, dem Mörder seines eigenen Volkes, Einhalt? Warum muss Somalia schon wieder Hunger leiden? Wie beenden wir den russischen Terror in der Ukraine? Dass Putin es in dieser Woche geschafft hat, im Rahmen seiner "Entnazifizierung" den 96-jährigen Holocaust-Überlebenden Boris Romantschenko mit einem Bombenangriff auf sein Wohnhaus in Charkiw zu ermorden - dazu fällt einem schlicht nichts mehr ein. Da sind wir alle so klug wie nie und wissen am Ende doch fast nichts.

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Soldat der Nationalgarde der Ukraine blickt durch ein Fernglas © Ukrinform/dpa

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"Wir brauchen mehr Wissenschaft in der Politik"

Erlauben wir uns ein paar Minuten Rückzug vom Elend dieser Welt und finden Trost in den wenigen Gewissheiten, die wir noch haben! In der "Gewissheit" steckt das "Wissen", und das schenken uns die Leistungen der Wissenschaft. Was täten wir, wenn wir sie nicht hätten? Nie ist die Wissenschaft in den Montags- bis Sonntagsreden der Politik so gepriesen worden wie in unseren Tagen. "Wir brauchen mehr Wissenschaft in der Politik", sagt Karl Lauterbach. Oh Wissenschaften, es ist eine Lust zu leben!

Welche Früchte also sind zu pflücken von den hochaufschießenden Bäumen der Wissenschaft? Ein kleiner Rundgang durch den Garten des Irrsinns (mit einer schönen abseitigen Ecke):

Jeder Verwaltungswissenschaftler kann leicht nachweisen, dass ein milliardenschweres "Sondervermögen" zwar kaum der Bundeswehr weiterhelfen wird, wohl aber - merkt da der Wirtschaftswissenschaftler an - der Rüstungsindustrie, und wenn diese gedeiht, dann blüht das Leben, nicht wahr (Frage an den Botaniker)? Seelenforscher wiederum können zeigen, dass ein bislang weitgehend friedfertiger Bundestag, der bei der Aufrüstungsankündigung des Bundeskanzlers in Standing Ovations ausbricht, nicht ausschließlich rational handelt; Psychologen sprechen wohl eher von einem "kollektiven Rausch" als oberflächlichem Ausdruck einer "Angststörung".

Müdigkeit, Ermattung, Angst

Und schließlich - wenn noch schnell ein Seitenblick in den Bereich der spekulativen Wissenschaften erlaubt ist - wird die Literaturwissenschaft schnell zum Ergebnis kommen, dass "Die Woche" von Heike Geißler ein sehr guter Roman ist.

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Cover des Buchs "Die Woche" von Heike Geißler © Suhrkamp Verlag

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Darin erzählt die Leipziger Schriftstellerin vom Grundgefühl ihrer Generation, der ungefähr 40-Jährigen: Letztlich hört es nie auf, Montag zu sein, auch freitags nicht. Montag bedeutet: Müdigkeit, Ermattung, Angst vor dem Ausbruch des Kriegs in uns selbst und in unserer Umgebung. Der Wille, sich aufzulehnen gegen die Funktionslogik des Kapitalismus und der in ihm wohnenden Menschenfeindlichkeit, ist durchaus da, wird aber immer wieder gebremst von: Müdigkeit, Ermattung, Angst. Und so scheuchen wir morgens um halb sieben unsere Kinder aus dem Schlaf, hetzen sie zum Frühstückstisch, jagen sie in die Schule. Ältesten wissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge ist der frühe Unterrichtsbeginn ungesund für alle Beteiligten, 70 bis 80 Prozent der Kinder und Jugendlichen sind dauerhaft übermüdet, unfähig, sich zu konzentrieren. Sie lernen schlecht. "Lernen" - falls es darum überhaupt geht bei diesem ganzen Schulquatsch. "Das ist das Stigma aller Unterdrückten: früh aufstehn zu müssen", schrieb Kurt Tucholsky. Aber das Schlimme ist: Wir Eltern machen widerwillig mit bei dieser Unterdrückung. "Ich treibe die Kinder an", heißt es bei Heike Geißler. "Ich schmiere nachher Liebkosungen drüber." So ist regelmäßig um kurz vor acht der Tag schon im Eimer. Herzlichen Glückwunsch, Deutschland!

Wer schläft, führt keinen Krieg

Den Allermeisten würde es ja schon helfen, wenn die Schule eine Stunde später begönne, eine Stunde später bloß! Das ist seit Jahrzehnten hinlänglich bekannt und bewiesen - nichts passiert. Und das fällt dann schon auf: Kinder zu maskieren, sie einem strengen Corona-Testregime zu unterziehen, ihnen phasenweise den Vereinssport zu verbieten - das ist alles möglich unter Berufung auf die Wissenschaft. Unmöglich ist: ihnen auch mal etwas Gutes zu tun. Soviel zum Thema "mehr Wissenschaft in der Politik". Es ist doch einfach nicht wahr.

Die lyrische Heike Geißler propagiert ein "Schlafland", sie fordert "Schlaf, Langsamkeit und Intensität". Keiner Wissenschaft wird es je gelingen, dagegen irgendetwas vorzubringen. Denn wer schläft, führt keinen Krieg.

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Ulrich Kühn, Claudia Christophersen und Alexander Solloch. © NDR Foto: Christian Spielmann

NachGedacht

Unsere Kolumnisten lassen die Woche mit ihren Kulturthemen Revue passieren und erzählen, was sie aufgeregt hat. Persönlich, kritisch und gern auch mit ein wenig Bösartigkeit gespickt. mehr

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | NachGedacht | 25.03.2022 | 10:20 Uhr

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