Barbara Vinken im Portrait © picture alliance / dpa | Horst Galuschka

Was sagt Mode über unsere Gesellschaft aus?

Stand: 30.07.2022 06:00 Uhr
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von Barbara Vinken

Den bürgerlichen, männlichen Zeitgenossen strebten mit dem 20. Jahrhundert auch die Frauen nach, vom männlichen Narzissmus, dem es um nichts als Selbstausdruck geht, angesteckt. Sie hatten keine Lust mehr, mit dem Stigma des Modischen behaftet, verdinglicht zum Sexobjekt für den Heiratsmarkt hergerichtet zu werden. Und übernahmen folglich den männlich bürgerlichen Sprechakt, mit und durch Kleider zu sagen, dass man Wichtigeres im Kopf hat, als die Kleider, die man trägt. Dafür brauchte man keinen Ballettmeister mehr, wohl aber einen guten Schneider, auch wenn dessen Kunst darin bestand, seine Kunst unsichtbar zu machen.

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Eine Reihe von Uhren steht in einem leeren Fabrikgebäude. Eine zeigerlose Uhr ist frontal zu sehen. © Roberto Agagliate / photocase.de Foto: Roberto Agagliate

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Diesen Sprechakt bekommen Anzug und Hosenanzug heute nicht mehr hin. Sie sind vielmehr zur Sprache einer Klasse geworden, die damit nicht mehr die Gleichheit aller, sondern die Privilegien, aber auch die Unterworfenheit unter Machtmechanismen betont. Freie und Gleiche - heute die Kreativen - ziehen Jeans und schwarze Rollis an. Oder eben, wie auch das zur Uniform einer Kaste geworden ist, Jogginghosen und Sweatshirts. Damit haben wir auch den Geistesmenschen als Ideal hinter uns gelassen. Der Körper hat in diesen Kleidern ein unübersehbares Comeback.

Fitnessstudio statt Schneider

Lee Edelkort, die wohl bedeutendste europäische Mode-Trendforscherin, hat vor kurzem beklagt, dass die Kleider ihren Sinn und Zweck nicht mehr erfüllen. Der nämlich läge nicht darin, einen Charakterkopf zu unterstreichen, sondern dem Körper durch Schnitt Form zu geben. So allein gelassen, ist der Körper auf sich gestellt: Er muss sich selbst formen. Die Kleider tun es jedenfalls nicht mehr. Statt zum Schneider gehen wir ins Fitnessstudio. Die Wespentaille unterstreichen wir nicht durch Korsett oder Petticoats, unsere Silhouette nicht durch einen raffinierten Schrägschnitt, sondern shapen unsere Körper mit oder ohne Personal Trainer im Schweiße unseres Angesichts. Und tragen auf der Straße dieselben Kleider, die wir im Fitnessstudio tragen. Jogginghosen, Trainingshosen, Leggings, Turnschuhe, die, weil voll im Trend, Basket oder Sneaker heißen. Woher auch die Zeit nehmen, sich anzuziehen, Form durch Kleider zu geben, wenn der Hometrainer ruft? Und die nächste Diät? Und angeblich tun wir auch das alles nicht, um zu gefallen, sondern weil es gesund ist - und um zu beeindrucken. Durch Waschbrettbauch, Muskeln, und Schlankheit. Wir investieren nicht mehr in die Kleider, sondern in unsere Körper, leicht gebräunt, schlank, beweglich, gepflegt und gut frisiert. Fitnessstudios, Friseure und Nagelstudios sind an die Stelle von Schneidern, Schmuck- und Unterwäschegeschäften getreten.

So treiben wir den bürgerlichen Sprechakt, für den Mode Sünde ist - nämlich Kompensation für die, die es nötig haben und durch Leistung nicht glänzen können - auf die Spitze. Schaut her, wir haben wirklich wichtigeres im Kopf als die Kleider, die wir tragen. Darauf verschwenden wir keinen Gedanken. Aber zum Sprechakt des Adels sind wir trotzdem zurückgekehrt: Denn wir können es uns leisten, in Fetzen, im Schlabberlook, in Fummeln herumzulaufen, weil wir Geld, Mühe und Zeit in die Optimierung unseres absolut vorzeigbaren Körpers investiert haben.

Wir finden wieder Gefallen aneinander

Aber stellen Sie sich jetzt mal vor, wir würden diesen Körper auch noch schön, oder auch schön hässlich, ironisch witzig, einfach überhaupt: anziehen? Nicht, um unserem Gegenüber zu imponieren und ihm unseren Status aufs Auge zu drücken, sondern ihr oder ihm ein Lächeln zu entlocken? Die wirklich gute Nachricht ist: Die Zeiten ändern sich. Immer mehr Leute ziehen sich wieder mit Witz und Lust an, Männer wie Frauen. Immer mehr finden es langweilig, mit der ewig gleichen Wichtigtuerei dem anderen immer nur zu sagen, dass sie Wichtigeres im Kopf haben, als die Kleider die sie tragen. Oder, alternativ, als Litfaßsäulen übersät mit Logos als Statussymbol - kann ich mir leisten - Eindruck schinden zu wollen. Wir finden wieder Gefallen aneinander - und zeigen uns das mit einem Augenzwinkern oder einem Lächeln. Macht das Leben für alle schöner.

Eine Wiederholung der Sendung vom 18.11.2018.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Gedanken zur Zeit | 30.07.2022 | 13:00 Uhr

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