Die Istanbuler Künstlerin Özgecan Uluer vor ihrem Angela-Merkel-Porträt © ARD Foto: Imran Mirza

Gedanken zur Zeit: Wie blickt die Türkei auf Deutschland?

Stand: 22.08.2021 11:45 Uhr

von Christian Buttkereit

"Wenn man auswandert, muss man produktiv sein"

Die Basis für ein besseres Klima ist vorhanden, ist trotz fremdenfeindlicher Übergriffe wie in Mölln oder Solingen, die auf dem Bild der Türken über Deutschland dunkle Flecken hinterlassen haben. Fremdenfeindlichkeit sei ihr bei ihren Besuchen in Deutschland nicht widerfahren, sagt Techno-Fan Zeynep. Aber: "Wenn ich mit Freundinnen, die dort leben, darüber rede, dann kennen die so etwas zum Teil schon - insbesondere gegen Türken. Das kann ich den Deutschen aber nicht ganz verübeln, denn wenn man Migrant ist, wenn man wohin auswandert und dort Zuflucht findet, dann muss man produktiv sein... und nicht nur für sich selber, sondern auch für das Land und dessen Gesellschaft. Unter den Türken in Deutschland gibt es leider ein gewisses Ghetto-Verhalten, sie verschließen sich der Außenwelt, leben in ihrer eigenen Blase. Aber natürlich nicht alle."

Zeyneps Beobachtung sei symptomatisch, meint Migrationsforscher und Soziologe Murat Erdogan herausgefunden zu haben. Ausgerechnet die sogenannten Deutschtürken seien bei den Türken in der Türkei oft nicht besonders gut angesehen: "Interessanterweise richtet sich in Bezug auf Deutschland eine negative Wahrnehmung nicht gegen die Deutschen, sondern eher gegen die Türken in Deutschland. Da spielt ein gewisser Sozialneid eine Rolle - den Türken in Deutschland geht es im Schnitt finanziell besser als den Türken in der Türkei. Und noch etwas anderes: In der Türkei wird Fleiß und Arbeit weniger wertgeschätzt als der Status, der Titel einer Person."

Mesut Özil - ein türkisches Trauma

Dabei haben es viele Menschen mit türkischen Wurzeln in Deutschland zu einer beachtlichen Popularität gebracht, seien es Politiker wie Cem Özdemir, der im rheinhessischen Alzey aufgewachsene Sänger Tarkan und diverse Fußballspieler. Doch nicht alle sind in der Türkei beliebt. So spricht Migrationsforscher Erdogan im Falle des Fußballweltmeisters Mesut Özil sogar von einem Trauma: "In den Augen der Türkei war er zunächst ein Vaterlandsverräter, weil er sich für die deutsche Nationalmannschaft entschieden und gegen die Türkei auch noch ein Tor geschossen hatte. Aber als er Deutschland verließ, wurde er in der Türkei als Held gefeiert. Ein Auf und Ab also mit seinem Image. Aber die beliebtesten Deutschtürken aller Zeiten dürften wohl die Gründer des Pharmazieunternehmens Biontech sein, das Wissenschaftler-Ehepaar Özlem Türeci und Ugur Sahin. Dass sie als erste einen Corona- Impfstoff entwickelt haben, das macht die Türken stolz. Ansonsten geht die Rechnung 'Wer populär in Deutschland ist, der ist auch populär in der Türkei' nicht auf."

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Grundsätzlich lässt sich sagen, Türken, die ihr Deutschlandbild ausschließlich aus den Medien beziehen, verharren eher in Klischees und haben häufiger ein negatives Deutschlandbild. Wer mit Deutschen zu tun hat, betrachtet sie differenzierter und meist positiv. Im Austausch darüber dürfte auch mancher Deutsche positiv überrascht sein, nicht mehr als spröde und humorlos betrachtet zu werden. Jedenfalls nicht in den Augen der 24-jährigen Techno-Liebhaberin Zeynep: "Die Deutschen sind selbstbewusst. Vielleicht, weil sie Zugang zu fast allem haben und vieles auch recht früh schon in Erfahrung bringen, wer und was sie sein wollen. Das wirkt sich auf ihre Kommunikation aus. Sie sind entspannt und fröhlich... Ich fühle mich wohl mit ihnen, zumindest mit den Deutschen, die ICH bislang kennengelernt habe."

Selens deutsche Bekannte: "Open-minded, lustig und entspannt"

Der Istanbuler Köchin Selen geht es ähnlich. Sie kennt einige Deutsche, aber auch Deutschtürken, persönlich. "Ich fühle mich wohl mit diesen Menschen", erzählt sie. "Denn die Deutschen, die ich kenne, sind open-minded, lustig und entspannt. Es sind viele Menschen, die in der Gastronomie tätig sind, aber auch Künstler. Die sind gesellig, kreativ, lieben es zu essen und zu genießen."

Selbst der in der Türkei oft verspotteten Alman Usulü, der deutschen Art zu zahlen, kann Selen viel abgewinnen: "Ich finde das absolut korrekt. Jeder soll selber zahlen, was er oder sie gegessen und getrunken hat. Denn bei den Türken, das weiß ich, sobald die schon am Tisch sitzen, machen sie sich Gedanken, wer denn wohl die Rechnung begleichen muss am Ende. Dann genießen sie nicht. Wozu das Ganze? Soll jeder seine eigene Rechnung zahlen! Alman Usulü ist gut, meiner Meinung nach."

Özgecan Uluers Merkel-Porträt: Welche Farbe für den Blazer?

In ihrem Istanbuler Atelier denkt die Künstlerin Özgecan Uluer noch darüber nach, welche Farbe sie dem Blazer von Angela Merkel geben will. Das Porträt will sie auf jeden Fall bis zur Bundestagswahl fertig haben. Am liebsten würde sie es der Kanzlerin selbst überreichen: "Ich würde es ihr gerne schenken, sofern sie das akzeptiert", sagt Uluer. "Auch weil ich dankbar bin für die Möglichkeit, ein Semester in Deutschland zu studieren. Das hat mir den Einblick in eine bessere Bildung und mehr Bürgerrechte gegeben. Und auch bessere Chancen für mein Leben. Selbst wenn ich nicht in Deutschland leben kann, hatte ich doch die Möglichkeit, die deutsche Gesellschaft zu erleben und zu sehen, dass man Dinge anders machen kann als in meinem Heimatland. Das hat mir Kraft gegeben."

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Eine Reihe von Uhren steht in einem leeren Fabrikgebäude. Eine zeigerlose Uhr ist frontal zu sehen. © Roberto Agagliate / photocase.de Foto: Roberto Agagliate

Gedanken zur Zeit

Radio-Essays für neugierige Hörer: Immer sonntags diskutieren namhafte Autoren unsere Weltbilder und liefern Diagnosen zur geistigen Situation der Zeit. mehr

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NDR Kultur | Gedanken zur Zeit | 21.08.2021 | 13:05 Uhr

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