Gedanken zur Zeit: Wie blickt die Türkei auf Deutschland?
Wie schauen Menschen aus anderen Ländern auf Deutschland im Jahr 2021? In Folge 3 der Sommer-Serie der Gedanken zur Zeit geht es um den Blick aus der Türkei. Ein Essay von ARD-Korrespondent Christian Buttkereit.
Auf der Staffelei im Atelier der Istanbuler Künstlerin Özgecan Uluer steht Angela Merkel. Also ein Porträt der scheidenden Bundeskanzlerin. Etwa ein mal ein Meter groß. Es ist noch nicht fertig, doch Gesichtszüge und die legendäre Merkel-Raute sind schon deutlich zu erkennen. Was treibt die 35-Jährige an, die deutsche Kanzlerin zu malen? "Sie ist eine starke Frau und damit auch ein Rollenmodell für mich und viele andere Frauen in der Türkei und anderswo", erzählt Uluer. "Ich male sie, weil sie mich und Frauen weltweit ermutigt, unsere Zukunft in die eigenen Hände zu nehmen. Gerade in einem Land wie diesem kann es wichtig sein zu erkennen, dass eine Frau stark und stolz sein kann, wie sie."
Erste Assoziationen: Angela Merkel, Bier und Kartoffeln
Klar, Merkel ist nicht Deutschland, aber die scheidende Kanzlerin ist wohl allen Türken bekannt und bei den meisten beliebt. Der Name der Kanzlerin ist einer der Begriffe, die genannt werden, wenn man Türken danach fragt, was ihnen zu Deutschland spontan einfällt. Danach folgen gleich Bier und Kartoffeln, sagt Selen eine Istanbuler Köchin. Sie ergänzt: "Diszipliniert, systematisch vorgehend... das schwirrt uns Türken so durch den Kopf, aber das sind Stereotype eigentlich. Ob das gegenwärtig immer noch so ist? Keine Ahnung."
Ja, meint der Istanbuler Anwalt Abdullah, natürlich seien das Stereotype. Aber sie decken sich mit seinen Erfahrungen: "Wenn man mit Deutschen zusammenarbeitet, kooperiert oder ins Geschäft kommt, dann kann man ihnen vertrauen. Ein Versprechen wird eingehalten. Das wünsche ich mir auch für die Türkei."
"Made in Germany" zählt immer noch
Und auch wenn viele Türken stolz auf eigene technologische Entwicklungen sind, "Made in Germany" zählt immer noch. Warum würde sonst ein Heizgerätehersteller mit "alman technoloji" werben?

Also nichts Überraschendes im türkischen Blick auf die Deutschen? Weit gefehlt: Die Studentin Zeynep ist 24 Jahre alt, studiert Bildende Künste an der renommierten Mimar Sinan Universität in Istanbul, ihren Körper zieren zahlreiche Tattoos. Sie sagt: "Wenn ich an Deutschland denke, fällt mir als erstes die Underground-Musikszene ein. Ich bin nämlich ein Techno-Music-Fan und ich denke, dass die in unserem Land nicht ausreichend gewürdigt wird. Deutschland ist dagegen ein Zentrum dieser Szene."
Drei Mal war Zeynep schon in Deutschland, in Berlin und Frankfurt. "Ich fühle mich dort frei und sicher, denn ich spüre, dass mich niemand wegen meiner Piercings oder Tattoos oder wegen meiner Kleidung schief anguckt oder kritisiert."
Studentin Zeynep verbindet Deutschland mit Techno
Dass die junge Türkin Deutschland mit Technomusik verbindet, zeigt für den Migrationsforscher Murat Erdogan, der unter anderem an der deutsch-türkischen Universität in Istanbul lehrt, wie sich die Sichtweise auf Deutschland vor allem bei den jungen Türken wandelt. Ob die deutsche Techno-Musik auch einmal Eingang in die türkische Alltagssprache findet - auch das ist nicht auszuschließen: "In der türkischen Sprache haben die Deutschen beziehungsweise deren Verhalten einige Begriffe geprägt", so Erdogan. "An der Spitze steht da wohl 'Alman Usulü', also im Restaurant bezahlen wie ein Deutscher - nämlich jeder für sich. Das wird von vielen Türken belächelt. Aber mal davon angesehen sind es in der Regel Begriffe, die mit etwas Positivem verbunden werden, zum Beispiel so sein wie ein Deutscher. Außer in Zeiten politischer Spannungen vielleicht."
Tatsächlich haben politische Querelen die Sicht auf Deutschland und die Deutschen in den vergangenen Jahren beeinflusst. Etwa, als das Verhältnis zwischen beiden Regierungen vor drei Jahren auf einem Tiefpunkt war. Aber auch beim Streit zwischen Griechenland und der Türkei um Erdgasvorkommen im Mittelmeer, in dem sich Deutschland einseitig auf die Seite Griechenlands geschlagen hat. Für den Istanbuler Anwalt Abdullah trübt das sein, sonst so positives, Deutschlandbild: "Selbstverständlich würde man sich wünschen, dass das sonst so vertrauenswürdige Deutschland auch politisch nach außen hin vertrauenswürdiger auftritt."
Ehemaliger Staatspräsident Abdullah Gül: deutsch-türkisches Klima verbesserungswürdig
Abdullah Gül, Staatspräsident der Türkei von 2007 bis 2014, schwärmt auch heute noch von einer tiefen Verbundenheit beider Staaten und ihrer jeweiligen Bevölkerung. Doch auch er hält das deutsch-türkische Klima für verbesserungswürdig: "Mit den Beziehungen ist es heute nicht zum Besten. Mein Wunsch und meine Hoffnung ist, dass sich das Verhältnis in kürzester Zeit wieder verbessert und wie früher wird. Die Spannungen gehen natürlich weitgehend von der Politik aus. Vor allem sie ist es, die das Klima bestimmt."
- Teil 1: Erste Assoziationen: Angela Merkel, Bier und Kartoffeln
- Teil 2: "Wenn man auswandert, muss man produktiv sein"
