Gedanken zur Zeit: Wie blickt Schweden auf Deutschland?
Wie schauen Menschen aus anderen Ländern auf Deutschland im Jahr 2021? In Folge 2 der Sommer-Serie der Gedanken zur Zeit geht es um den Blick aus Schweden. Ein Essay von ARD-Korrespondentin Sofie Donges.
Es ist noch nicht lange her, da musste ich laut lachen und habe mich eine Sekunde später ein bisschen geschämt: Als eine Schwedin, die lange in Berlin gelebt hat, bei Twitter ein Bild teilte und kommentierte: "Das ist mit das Deutscheste, was ich je gesehen habe." Auf dem Foto ein Kasten Bier, an dem ein Werbeschild hängt mit der Aufschrift: "Je Kasten erhalten Sie eine FFP2 Maske gratis." Natürlich auch noch mit dem Hinweis versehen, dass es sich um zertifizierte Masken handelt. Die deutschen Biertrinker, die korrekten Bundesbürger und deutsche Produkte mit Qualitätssiegel. In dem Bild steckt fast alles drin, was Schwedinnen und Schweden gerne über Deutschland sagen. Inklusive der Maske - dem Symbol für den unterschiedlichen Weg, den beide Länder in der Corona-Pandemie gegangen sind. Eigentlich ist damit alles gesagt, was man im Norden mit Deutschland assoziiert, ich könnte jetzt schon aufhören zu erzählen.
Die Deutschen und ihr Bullerbü-Syndrom
Wenn man etwas tiefer einsteigen möchte in die Bilder, die Schwedinnen und Schweden von Deutschland haben, muss man den Spieß jedoch erst mal umdrehen und über das Schweden-Bild der Deutschen sprechen. Denn dass die Schweden uns zwar etwas zu korrekt finden, aber ansonsten auch recht sympathisch, hat viel damit zu tun, dass die Deutschen dieses Land lieben und es mit Komplimenten überhäufen: Die schönen Menschen, die unglaubliche Natur, Elche, Mittsommer. Eine vermeintlich intakte Gesellschaft, angeblich gleichgestellte Familien, ein tolles Bildungssystem. Digitalisiert, perfektes Wohndesign, immer die neueste Mode. Das Land der Krimibestseller, der Zimtschnecken und der Kinder, die frei und wild aufwachsen. Für diesen deutschen Enthusiasmus gibt es in Schweden inzwischen ein Wort: Das Bullerbü-Syndrom. Erfunden hat es der ehemalige Leiter des Goethe-Instituts in Stockholm, und es meint genau diese gerade beschriebene Idealisierung, Schweden als Sehnsuchtsland. Jeden Sommer kommen die Deutschen also mit ihren Wohnmobilen in den Norden. Und die Schweden erkennen sie schon von weitem an verschiedenen Ausstattungsmerkmalen: Rucksäcke einer gewissen deutschen Outdoor-Marke und Trekkinghosen in der Variante praktisch: Die mit dem Reißverschluss, die man kurz und lang tragen kann. Und an den Füßen die berühmten Birkenstock-Sandalen - über die eine schwedische Journalistin neulich sagte: Diese Schuhe seien für sie ein Symbol für die wunderbare deutsche Unbekümmertheit um modische Trends.
Deutsche Politik: Beständig wie die Wahl der Sommersandale?
Zu schade, dass der deutsche Konzern nun von einem französischen Luxusunternehmen aufgekauft wurde und die Deutschen plötzlich unfreiwillig zu Trendsettern werden. Das passt doch gar nicht zu uns. Beständigkeit, Kontinuität und Stabilität - nicht nur bei der Wahl der Sommersandale. Auch in der deutschen Politik gelten diese Werte, finden die Schweden. Und umso erstaunter ist man hier, wenn es mal anders kommt. Als CDU und CSU öffentlich nach einem Kanzlerkandidaten suchten. Deutschland und Schweden konnten genüsslich dabei zusehen, wie zwei Männer öffentlich einen Machtkampf austrugen. Ein typisch deutsches Theater, denn in Schweden sind Debatten viel leiser.
Immer alle Argumente auf dem Tisch
Neulich sagte ein schwedischer Journalist fast verzweifelt über das politische Berlin: Es ist grausam, immer sind alle Meinungen lautstark vertreten, immer alle Argumente auf dem Tisch. Wie anstrengend das doch für eine Regierungschefin sei, die wie eine Lotsin durch diese Gemengelage führen müsse. Dafür bewundert man die scheidende Kanzlerin Merkel. Sie habe es mit Humor und einer gewissen Distanz geschafft, ihre Konkurrenten auf Abstand zu halten. Die Krisenkanzlerin, die Managerin. Und eine, die das alte Deutschland ein bisschen skandinavischer gemacht hat, sagte neulich ein anderer Journalist. Skandinavischer deshalb, weil unter Merkel 2007 Elterngeld und Elternzeit in Deutschland eingeführt wurden. In Schweden wiederum gibt es ein ähnliches Modell schon seit 1974. Das sind Momente, die das Land sehr genießt, wenn das mächtige Deutschland neugierig gen Norden blickt und von dem kleinen Schweden lernen möchte. Denn Deutschland spielt hier in der öffentlichen Wahrnehmung eine viel größere Rolle, als man auf den ersten Blick glauben könnte.
Schwedische Nachrichten berichten über deutsche Landtagswahlen
Wie wichtig politische, aber auch gesellschaftliche Entwicklungen in Deutschland sind, merkt man beispielsweise in den Nachrichten: Landtagswahlen finden hier ihren Platz, nicht nur in Form von Ergebnisverkündung, sondern inklusive tiefgehender Analysen. Die Überschwemmungen in diesem Sommer dominieren tagelang die Nachrichtenseiten, auch die Debatte um einen lachenden Kanzlerkandidaten und die möglichen Auswirkungen auf die Bundestagswahl. Deutschland gehört in der Auslandsberichterstattung zu den wichtigsten Ländern, denn die Deutschen steuern Europa und Angela Merkel ist die mächtigste Frau der Welt – nicht selten hört man diese Einschätzung in Schweden.
Kritischer Blick nach Norden in der Pandemie
Vor eineinhalb Jahren jedoch knirschte es im eigentlich geschmeidig laufenden deutsch-schwedischen Getriebe. Mit der Pandemie zeigten sich die wesentlichen Kulturunterschiede beider Länder: Schweden ist leiser, zurückhaltender und weniger debattierfreudig. Die Deutschen wiederum sind entschlossen und organisiert in den Lockdown gegangen und haben auf einmal sehr kritisch gen Norden geschaut. Was machen die Schwedinnen und Schweden nur? Und dann waren sie wieder da: Diese vielen Meinungen, lautstark verkündet, alle Argumente auf dem Tisch - eben das, was in schwedischen Ohren einen leisen Schmerz auslöst. Denn es hat jede und jeder in Deutschland eine Haltung zum sogenannten schwedischen Sonderweg: Entweder völlige Fassungslosigkeit über die naiven Schweden, die den Ernst der Lage nicht begreifen oder sie denken Schweden sei das einzige Land, in dem man noch in Freiheit leben könne.
- Teil 1: Die Deutschen und ihr Bullerbü-Syndrom
- Teil 2: Deutschland im Lockdown: Amüsierter bis irritierter Blick aus Schweden
