Melodie des Islam: Die Längsflöte Ney
Der "verlängerte Atem Gottes" wird die Ney von den Sufis, den islamischen Mystikern, genannt. Nahezu alle religiösen Gesänge und sufistischen Gedichte werden mit der orientalischen Längsflöte untermalt. Aber auch viele Künstler in der heutigen Zeit setzen das unscheinbare Musikinstrument aus Bambus immer öfter ein.
Von Hüseyin Topel
Auf die modernen, aber doch orientalischen Klänge, einer Mischung aus Elektro-Elementen und Blues, stößt man oft in Istanbul. Sie transportieren den "Spirit vom Bosporus" und werden auch gerne als "Istanblues" umschrieben. Gefühlsintensive Melodien, gespielt mit westlichen und vor allem auch orientalischen Instrumenten. Wie die Trommel Darbuka, die elektronische Langhalslaute Saz und - die Ney.
Bei der Ney handelt es sich um eine Längsflöte, die auch in der islamischen Kunst eine zentrale Stellung hat. Jemand, der eine Ney beherrscht, wird als Neyzen bezeichnet. Murat Çakmaz ist einer der seltenen Neyzen in Deutschland. Er wuchs in Wesel auf, verbrachte aber viel Zeit bei Meistern der Ney-Kunst in der Türkei, um sie so gut wie möglich zu erlernen. "Der Ursprung der Ney liegt etwa 2.000 Jahre vor Jesu Geburt", erzählt Çakmaz. "Diese orientalische Längsflöte war schon bei den Sumerern im Einsatz. Also weit vor dem Islam kam sie bei religiösen Ritualen vor."
Der Klang des Herzens
Der Klang einer Ney wird mit der menschlichen Stimme verglichen. Und in der Tat hört sich die klagende Ney an, als würde ein Mensch innig weinen. Der bekannteste islamische Mystiker Maulana Dschelaleddin Rumi beschreibt in einem Gedicht, was er in der Ney verborgen sieht.
"Seit man mich von meinem Ursprung abgeschnitten hat,
weinen Frauen und Männer unentwegt durch meinen Klang.
In mir fließt nicht nur der Atem eines Menschen,
In mir lodert die Flamme der Liebe."
Maulana Dschelaleddin Rumi
So klingt eine Ney: Murat Çakmaz und das AVRAM Ensemble:
Inbegriff von religiöser Musik
Mit den herausragenden Religionsphilosophen der anatolischen Geschichte, wie Maulana Dschelaleddin Rumi, Ahmed Yesevi und Haci Bektas Veli hat sich die Ney als Symbol der islamisch-spirituellen Kunst etabliert. "Ab dem 12. Jahrhundert, als sich auf anatolischem Territorium der Sufismus verbreitete, erlangte die Ney in der islamischen Gemeinschaft eine neue Bedeutung", weiß Çakmaz. "Fortan galt: 'Ein Sufismus ohne die Ney, oder eine Ney ohne den Sufismus ist undenkbar.'"
Doch unabhängig davon, ob man sich der Sufi-Tradition hingibt oder nicht: Die intensive Beschäftigung mit der Längsflöte kann dem Spieler helfen, sich spirituell zu entwickeln. Diese Erfahrung macht auch Murat Çakmaz: "Für mich ist die Ney so ähnlich wie ein Gebet. Durch das Spielen kommen gewisse religiöse Gefühle hoch, obwohl ich gar nicht so streng religiös bin. Mir ist wichtig, die Ernsthaftigkeit der Ney bei meinen Auftritten an die Menschen heranzutragen."
Für viele ist aber die sinnbildhafte Verbindung der Längsflöte mit dem Sufismus ein Hemmnis. Man glaubt, dass ein Ney-Künstler seinen Lebensstil eher konservativ gestalten muss. Murat Çakmaz, ein moderner junger Mann mit Tattoo und Ohrring, ist das beste Beispiel dafür, dass es keinen Anlass gibt, die Ney so eng zu betrachten: "Ich sehe in der muslimischen Bevölkerung, dass es bezüglich der Ney ein striktes Schwarz-Weiß-Denken gibt. Mit den Ney-Spielern werden bestimmte Bilder und Menschentypen assoziiert. Das ist aber ein unnötiges Bild. Jeder kann sich für die Ney interessieren. Das Instrument passt zu jedem, der genug Geduld mitbringt, um sie zu erlernen."