Die Wahlkabine ist keine Moschee!
Die deutsch-türkischen Beziehungen sind auf einem Tiefpunkt angelangt. Auch viele Deutsche mit türkischen Wurzeln sind enttäuscht von den etablierten Parteien. Und dann auch noch der Aufruf des türkischen Präsidenten Erdogan, bei den Bundestagswahlen nicht für "Türkeifeinde" zu stimmen. Die Befürchtung ist nun groß, dass viele Deutschtürken nicht wählen gehen. Für Canan Topçu ist das keine Alternative.
Ein Kommentar von Canan Topçu
Welcher Partei sollte ich bei der Bundestagswahl die Erststimme und welcher die Zweitstimme geben? Der Qual der Wahl setze ich mich aus. Meine beiden Kreuzchen werde ich am 24. September nach einer wohl überdachten Entscheidung machen. Der Appell des türkischen Staatspräsidenten prallt an mir total ab.
Wahlboykott ist kontraproduktiv
Es gibt aber türkischstämmige Wahlberechtigte, die Erdogans Boykottaufruf folgen wollen. Sie meinen allen Ernstes, den angeblich türkeifeindlichen Parteien einen Denkzettel verpassen zu können. Entweder indem sie den von Erdogan genannten Parteien CDU, SPD oder den Grünen keine ihrer beiden Stimmen geben oder indem sie erst gar nicht zur Wahl gehen. Es kursieren auch Aufrufe an türkischstämmige Stimmberechtigte, sich nicht an der Bundestagswahl zu beteiligen. Nicht nur das! Es gibt auch Boykottaufrufe, die sich gezielt an Muslime richten. Mal mit dem Argument, dass es "haram", also Sünde sei, sich an den Wahlen zu beteiligen. Oder mit dem Hinweis, die etablierten Parteien seien dem Islam und den Muslimen gegenüber feindlich eingestellt.
Glücklicherweise leben wir hier in einer Demokratie. Um das Wahlrecht beneiden uns viele - gerade auch Menschen in islamisch geprägten Ländern. In Deutschland haben volljährige Staatsbürger das Wahlrecht, zum Gang an die Urne wird aber keiner gezwungen. Jeder Wahlberechtigte kann entscheiden, ob er wählt und welcher Partei er seine Stimme gibt. Wer als Erdogan-Anhänger oder als Muslim nicht zur Wahl geht, tut sich selbst keinen Gefallen.
Themen, die uns alle betreffen
Zweifelsohne ist es für fromme Muslime relevant, welche religiösen Praktiken langfristig in diesem Land möglich sein werden. Ohne die Diskussionen rund um das Kopftuchverbot, die Beschneidung von Jungen, das betäubungslose Schlachten und die fehlenden Gebetsräume in öffentlichen Einrichtungen verharmlosen zu wollen: Es gibt Probleme, die für Bürger dieses Landes jenseits ihrer religiösen Zugehörigkeiten wichtig sind. Arbeitslosigkeit etwa. Oder auch Altersarmut; sie betrifft nicht nur Alteingesessene, Atheisten und Christen, sondern auch Migranten und Muslime. Und wer bei Bildungspolitik nur den Fokus darauf richtet, welche Partei sich für den islamischen Religionsunterricht einsetzt, der verkennt, dass es dabei vor allem auf etwas anderes ankommt: auf eine Politik nämlich, die sich für die Chancengleichheit von allen Kindern und Jugendlichen einsetzt.
Klimaschutz, soziale Gerechtigkeit, Arbeitsmarktpolitik sind auch Themen, die uns alle betreffen - unabhängig davon, ob wir Christen, Muslime, Juden, Buddhisten oder Atheisten sind. Wer also seine Entscheidung, zur Wahl zu gehen und seine Stimme dieser oder jener Partei zu geben, nur davon anhängig macht, ob sie vermeintlich türkeifreundlich ist oder ob die Interessen von Muslimen und der islamischen Gemeinschaft in Deutschland durchgesetzt werden, der fokussiert sich allein auf seine religiöse Identität. Damit begeben sich gerade diejenigen in einen Widerspruch, die sonst immer lautstark kritisieren, auf ihre Religion oder ethnische Herkunft reduziert zu werden. Ich plädiere dafür, sich weder von ausländischen Staatspräsidenten noch von islamistischen Fundamentalisten instrumentalisieren zu lassen.
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