Johann (Claude Heinrich) und Ann Kathrin (Adina Vetter) im Film "Wir sind dann wohl die Angehörigen" von Hans Christian Schmid © NDR/23/5 Filmproduktion GmbH

Drama um die Entführung von Jan-Philipp Reemtsma kommt ins Kino

Stand: 03.11.2022 06:00 Uhr

Im Frühjahr 1996 wurde der Hamburger Millionenerbe Jan-Philipp Reemtsma entführt. 33 Tage lang musste seine Familie um ihn bangen. Reemtsmas Sohn Johann Scheerer, damals 13 Jahre alt, hat ein Buch über die Entführung geschrieben: "Wir sind dann wohl die Angehörigen". Die Verfilmung hat im September das Hamburger Filmfest eröffnet und kommt nun in die Kinos.

von Walli Müller

Die Kindheit von Johann Scheerer endet exakt am 25. März 1996. Er liegt schon schlafend im Bett, als die Mutter ihn behutsam weckt, um ihm etwas Schlimmes mitzuteilen: "Johann, wir müssen jetzt gemeinsam ein Abenteuer bestehen. Jan-Philipp ist entführt worden." In diesem Moment ändert sich alles für den 13-Jährigen. Er darf nicht mehr zur Schule oder zur Band-Probe gehen, sieht, wie sich Polizisten im Haus einquartieren und wie Techniker das Telefon verdrahten, um Anrufe aufzuzeichnen.

Schicksalsgemeinschaft aus Mutter, Sohn, Anwalt und Polizei

Mutter, Sohn, Polizeibeamte und der Anwalt der Familie bilden nun im Haus der Reemtsmas eine seltsame Schicksalsgemeinschaft. Sie alle können nichts anderes tun als da zu sitzen, auf Nachrichten der Entführer zu warten und die Geldübergabe vorzubereiten, die dann doch mehrfach scheitert. Ein Geduldspiel, das täglich mehr an den Nerven zerrt und das die latente Spannung dieses Dramas ausmacht.

Ein "Anti-Thriller" von Regisseur Hans-Christian Schmid

Der Fall ist einer der spektakulärsten der deutschen Kriminalgeschichte. Hundertprozentiger Thriller-Stoff! Aber auf der Leinwand: Kein Geschrei, keine Action, nicht Jan-Philipp Reemtsma in seinem Keller-Verließ. Regisseur Hans-Christian Schmid liefert geradezu einen "Anti-Thriller". "Es war schon von vornherein klar, dass wir uns auf die Familiengeschichte konzentrieren", erklärt er. "Wir haben dann auch entsprechend bewusst versucht, die Möglichkeiten, bei denen man in Richtung Krimi hätte abzweigen können, nicht zu wählen. Wir zeigen keine Ermittlungsarbeiten der Polizei, sondern wir fokussieren uns auf den Kern, auf die Familie."

Im Zentrum steht die Wahrnehmung von Reemtsmas Sohn

Johann (Claude Heinrich) umart seine mutter Ann Kathrin (Adina Vetter) im Film "Wir sind dann wohl die Angehörigen" © NDR/23/5 Filmproduktion GmbH Pandora
Der 16-jährige Claude Heinrich spielt Johann Scheerer, Adina Vetter seine Mutter Kathrin.

Im Zentrum steht die Wahrnehmung Johanns, gespielt vom 16-jährigen Claude Heinrich. Seine quälende Sorge um den Vater wird noch schlimmer dadurch, dass er vor der Entführung ein so distanziertes Verhältnis zu ihm, dem intellektuellen Bücherwurm, hatte. Nun muss er seine verzweifelten Briefe aus der Geisel-Haft verkraften.

Ausnahmesituation der Entführung wird zum "Alltag"

Das Überraschendste an diesem Film ist, wie sehr auch die Ausnahmesituation einer Entführung irgendwann zum "Alltag" wird: Da spielen Polizisten mit Johann Tischtennis, geht ein Freund der Familie sogar auf den Rummelplatz mit ihm. Auch Regisseur Schmid hatte sich das so nicht vorgestellt: "Er schreibt, da waren Abende dabei, an denen die Stimmung unglaublich heiter war. Natürlich auch als ein Ventil, um diesen Druck zu lösen. Das ist einfach ein Aspekt, der mich interessiert hat: Wie verhalten sich diese Menschen in dieser Situation unter diesem Druck von außen? Welche Routinen entwickeln sie? Wo zeigt sich ihre Überforderung?

Beteiligte durften den Film vor allen anderen sehen

Natürlich spürte Hans-Christian Schmid eine besondere Verantwortung den Menschen gegenüber, deren Geschichte er hier erzählt. Er und sein Drehbuch-Co-Autor haben im Vorfeld mit allen Beteiligten ausführlich gesprochen und ihnen am Ende vor allen anderen den Film gezeigt. „Das war mir wichtig“, sagt Hans-Christian Schmid. "Sie konnten sich zum Glück damit identifizieren, sie mochten ihn. Das war natürlich auch eine große Bestätigung für uns, dass wir nicht ganz falsch liegen mit unserem Ansatz, die Geschichte zu erzählen."

"Wir sind dann wohl die Angehörigen" zieht das Publikum hinein in die Gefühlswelt der Opfer, die im herkömmlichen Krimi kaum eine Rolle spielt. Das macht den Film so bewegend und bedeutsam.

Weitere Informationen
Regisseur und Autor Hans Christian Schmid am roten Teppich bei der Weltpremiere seines Filmes "Wir sind dann wohl die anderen" © Screenshot

"Wir sind dann wohl die Angehörigen": Familiendrama statt Krimi

Die Entführung Jan Philipp Reemtsmas bietet guten Krimistoff. Regisseur Hans Christian Schmidt fokussiert sich aber auf das Schicksal der Angehörigen. mehr

Wir sind dann wohl die Angehörigen

Genre:
Drama
Produktionsland:
Deutschland
Zusatzinfo:
mit Claude Heinrich, Adina Vetter, Justus von Dohnányi, Hans Löw, Yorck Dippe, Enno Trebs, Fabian Hinrichs und Philipp Hauß
Regie:
Hans-Christian Schmid
Länge:
1 Std. 58 Min
FSK:
12
Kinostart:
03.11.2022

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Klassisch in den Tag | 03.11.2022 | 07:20 Uhr

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