Binge Watching © picture alliance / Shotshop | manaemedia
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AUDIO: "Ich schaue eine Staffel pro Tag": Maren Lickhardt im Gespräch (26 Min)

"In Serien suchen wir Identifikation": Maren Lickhardt im Gespräch

Stand: 22.06.2023 06:00 Uhr

Das Bedürfnis nach Binge-Watching habe es schon vor Streaming-Anbietern gegeben, sagt Medienwissenschaftlerin Maren Lickhardt. Bei NDR Kultur spricht sie über die Ästhetik und Dramaturgie von Binge-Watching-würdigen Serien.

Mit Augenzwinkern bezeichnet sie sich selbst als "seriensüchtige Extrem-Streamerin". Täglich schaut die Literatur- und Medienwissenschaftlerin Maren Lickhardt eine Staffel einer Serie. Aus der privaten Leidenschaft wurde ein wissenschaftliches Anliegen. In Mainz hat sie promoviert, seit 2017 ist sie an der Leopold-Franzens-Universität und forscht dort unter anderem zum exzessiven Serienkonsum - genannt Binge-Watching. Einen Auszug des Gesprächs lesen Sie hier. Das vollständige 30-minütige Gespräch können Sie in der ARD Audiothek oder als Podcast hören.

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Das Gespräch in der ARD Audiothek

Spannende Gäste aus Wissenschaft, Kunst, Kultur und Politik eine halbe Stunde im Dialog. extern

Wir sprechen heute über Ihr aktuelles Buch "Binge Watching". Lassen Sie uns mal zunächst den Begriff Binge-Watching klären. Was meint der genau?

Maren Lickhardt © Maren Lickhardt
Maren Lickhardts Sachbuch "Binge Watching" ist bei Wagenbach erschienen und kostet zwölf Euro.

Maren Lickhardt: Binge kommt aus dem Englischen und bedeutet exzessives Essen und Trinken. Binge-Watching bezeichnet in diesem Sinne dann exzessives Schauen. Allerdings unterscheidet sich der Begriff Binge-Watching von dem, was wir früher als "Vielsehen" bezeichnet haben. Denn "Binge-Watcher*innen schauen in aller Regel ein Produkt eines Formats durch. Wir leben jetzt in der Streamingkultur, in der man sich das selbst aussuchen kann, was man schaut. Das heißt: Es ist nicht dieses Sich-vor-den-Fernseher-Setzen, um dem linearen Programmfluss zu folgen, sondern es ist die aktive Hinwendung. Die Wahl eines Gegenstandes, den man dann an einem Stück rezipiert.

Was können wir denn aus der Analyse von Serien über unsere Zeit und unsere Gesellschaft lernen?

Lickhardt: Serien haben sich in den letzten Jahren sehr bemüht, virulente Themen aufzugreifen. Ob das immer so gelungen ist, sei dahingestellt - also ob das überhaupt wichtig ist, dass Serien das tun. Ob das nicht vielleicht auch etwas prätentiös ist und am Ende manchmal gar nicht so gut ankommt, wie man vielleicht meint. Aber man kann definitiv beobachten, dass die Serienwelt diverser geworden ist. Es gibt viel mehr weibliche Helden - also Heldinnen. Es gibt sehr viel mehr Figuren aller Ethnien und Klassen. Das ist etwas, das man sehr gut sehen kann: Wie sich hier das Gesellschaftsbild in Richtung pluralere Gesellschaft entwickelt hat.

Als ich in den 90er-Jahren Kind und Jugendliche war, da galt Seriengucken vor dem Fernseher als eine Freizeitbeschäftigung, für die man sich schämte. Da war man ein Stubenhocker, eine Fernseh-Eule. Heute ist das anders. Fürs Seriengucken muss man sich nicht mehr schämen - im Gegenteil. Man schmückt sich sogar damit. Was ist in der Zwischenzeit passiert? 

Lickhardt: Was passiert ist in der Zwischenzeit, das sind die 90er und das Abonnement-Fernsehen - vor allem HBO. In den 90er-Jahren entstanden erste große Qualitätsserien wie "Sex and the City" und "Die Sopranos", die diskursbildend waren. Ab diesem Zeitpunkt durfte man öffentlich zugeben, dass man Serien mochte. Auch "Akte X" - so merkwürdig die Serie aus heutiger Sicht ist. "Akte X" war so sein Fankultur-Ding, wo man sich als Teil einer Gruppe konstituieren konnte. Das heißt: Es gibt auch so spezifische Sub- und Nerd-Kulturen - und die wurden ja auch cooler im Laufe der Jahrzehnte. Heutzutage ist Serienschauen kulturelles Kapital. In dem Sinne, dass man in gewisser Hinsicht als gebildet gilt, wenn man bestimmte Serien kennt. Aber das hat sich in den 90er-Jahren herausgebildet und bezieht sich auf bestimmte Serien. Die Serienproduktion ist aktuell gar nicht mehr so, dass es viel mehr gute Serien gibt, sondern das Ganze entwickelt sich gerade eigentlich wieder in Richtung gutes Mittelmaß. Was ich völlig okay finde, aber das kann man gar nicht oft genug betonen, dass dieses Qualitätsserien-Zeitalter vorbei ist.

Also weg von der Serie, die fürs Abonnement-Fernsehen gemacht wurde und hin zur Serie, die zum Binge-Watching geeignet ist. In den Streamingdiensten gibt es ja auch Lockmittel, die uns zum Binge-Watching verführen. Da gibt es diese Funktion, die dafür sorgt, dass auf das Ende einer Episode sofort nahtlos die nächste folgt - oder auch, dass ganze Staffeln einer Serie verfügbar sind. Werden wir mit diesen Lockmitteln ausgetrickst?

Lickhardt: Nein. Oft sagt man, dass bestimmte Industrien - so auch die Kulturindustrie - Bedürfnisse weckt, die in Wirklichkeit gar nicht existieren. Aber in dem Fall stimmt das nicht. Rezipient*innen haben in den 90er-Jahren schon auf alle mögliche Weise versucht zu bingen. Man hat DVDs gekauft, es gab auf Conventions Screening Rooms, in denen Serien schon durchliefen. Es gab in den 90er-Jahren LAN-Partys, wo man mit dem Computer unter der Hand auf eine Party gegangen ist, ein W-LAN-Netz gebaut hat und ein ganzes Wochenende durchgespielt hat. Die Praxis des selektiven, exzessiven Medienkonsums hat es gegeben, bevor es Streamingdienste gab. Die Idee, das nun zu bedienen, die Netflix hatte, kommt also nicht aus dem Nichts, sondern es es war eben ein Bedürfnis, diese Serien dann auch zu bingen. Diese Industrie gibt uns das, was wir wollten. Natürlich versucht jeder Anbieter, seine Abonnent*innen im Abo zu halten. Das ist klar. Die Frage ist: Welche Strategie wählen Anbieter? Das kann sehr unterschiedlich sein. Die einen wollen mit Qualität, das Ganze machen. Die anderen mehr mit Quantität, was auch in Ordnung ist. Das Binge-Watchen einer Serie verführt uns zu nichts, was wir nicht selbst wollten und aktiv gewählt haben.

Wenn ich eine Serie schaue, habe ich das Gefühl, die Protagonistinnen und Protagonistin wären meine Freunde und ich würde ihre Biografie kennen, ihre Macken, ihre Geheimnisse. Sie könnten mir sogar begegnen. Ändert sich durch die Dauer und die Intensität des Eintauchens beim Serienschauen unser Verhältnis zur Fiktion?

Lickhardt: Es gibt Studien, die zeigen, dass Binge-Watching tatsächlich ein wenig die Identifikation und Immersion fördert. Dass man eben besser eintauchen kann, wenn man ein durchlaufendes Narrativ über mehrere Stunden hat. Die Identifikation mit einzelnen Figuren steigert sich dadurch. Aber letztlich hängt es natürlich nicht von der Rezeptionspraxis ab, sondern davon, mit wem man sich auf dem Bildschirm identifizieren kann. Das ist durch die zunehmende Diversität der Serien wahrscheinlicher geworden. Im Unterricht haben wir über die Repräsentation von LGBTQ in Serien gesprochen. Wir haben uns auch Foren angeguckt und Rezipient*innenstimmen dazu - die Mitglieder der Community sind sehr begeistert, dass es endlich Serien gibt, in denen sie sich spielen können: Figuren, mit denen sie sich identifizieren können. Also ist es nicht nur eine Frage der Rezeption, sondern auch, was geboten wird an Figurenarsenal.

Das Gespräch führte Juliane Bergmann. Das vollständige 30-minütige Gespräch können Sie in der ARD Audiothek oder als Podcast hören.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Das Gespräch | 18.06.2023 | 13:00 Uhr

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