Kirsten Boie: "Heul doch nicht, du lebst ja noch" (Cover) © Oetinger Verlag

NDR Buch des Monats Januar: "Heul doch nicht, du lebst ja noch"

Stand: 13.01.2022 07:11 Uhr

"Heul doch nicht, du lebst ja noch" heißt der neue Jugendroman von Kirsten Boie und spielt in den Tagen kurz nach dem Ende des zweiten Weltkriegs in Hamburg. Unser Buch des Monats.

von Katja Weise

Kürzer kann ein erster Satz nicht sein: "Jakob wartet." Dieser Satz soll neugierig machen und die Leserinnen und Leser direkt in das Buch hineinzuziehen. "Wo wartet er? Worauf wartet er? Warum wartet er?", fragt Kirsten Boie. "Da denke ich, können solche kurzen Sätze ganz hilfreich sein." Und der Autorin gelingt es.

Sofort sind wir bei diesem Jungen, der im Juni 1945 irgendwo in Hamburg Eilbek hungrig in einem zerbombten Haus hockt. Ein früherer Nachbar hat ihn hier versteckt und versorgt ihn, doch jetzt war er schon zwei Nächte nicht mehr da. Jakobs Mutter ist Jüdin und nach Theresienstadt deportiert worden, der Vater ist tot. "Solange es den 'arischen' Teil in dieser Ehe noch gab, war der jüdische Teil zunächst sicher," erklärt Boie, "aber wenn der ums Leben kam, war es vorbei."

Viele Perspektivwechsel und verzahnte Geschichten

Auch von Traute und Hermann erzählt Kirsten Boie, immer wieder wechselt sie die Perspektive, mehr und mehr verzahnen sich die Geschichten: Trautes Familie ist ganz gut durch den Krieg gekommen, doch dem Mädchen ist es oft zu eng in der Wohnung, Flüchtlinge aus dem Osten wurden einquartiert. Der 14-jährige Hermann war HJ-Führer, sein Vater, ein überzeugter Nationalsozialist, hat im Krieg beide Beine verloren.

Alle zwei Stunden soll er nach dem Vater sehen, das hat er versprochen. Um zu gucken, ob er ihn nach unten tragen muss, ins Zwischengeschoss, wo auf der halben Treppe die Toilette für die vier Mietparteien ist. Wie sollte der Vater da sonst wohl hinkommen? Leseprobe

Buch über die Zeit kurz nach Kriegsende

Kirsten Boie beschönigt nichts, weder Hermanns Ekel noch die Verzweiflung des Vaters. 1950 in Hamburg geboren, hat sie noch auf Trümmerfeldern gespielt und ist aufgewachsen mit den Geschichten aus dem Krieg. Doch gibt es immer weniger Menschen, die davon noch aus eigener Anschauung berichten können.

Deshalb sei es ihr wichtig gewesen, ein Buch über die Zeit so kurz nach Kriegsende zu schreiben: "Ich hab ja immer das Gefühl, dass viele Jugendliche, die sich so in die rechte Szene begeben und zum Beispiel bisher ganz viel von der Shoah gehört haben - und das ist gut, das soll unbedingt so sein - dass die denken: 'Damit habe ich doch nichts zu tun. Ich bin doch kein Jude! Ich wäre auf der Seite der Starken gewesen!' Und da fand ich es einfach wichtig mal zu zeigen: Auch für Dich wäre es kein Spaß gewesen. Auch die Deutschen, die nicht verfolgt worden sind, haben am Ende des Krieges furchtbar gelitten."

Empathischer Roman, der klar Stellung bezieht

Dieses Anliegen ist deutlich spürbar, doch Kirsten Boie erzählt so plastisch aus dem Alltag ihrer Figuren, findet so viele Anknüpfungs- und Identifikationspunkte, dass die Zeit in manchen Momenten aufgehoben scheint. Und natürlich weiß sie, dass die Geschichte auch spannend sein muss. Wird Jakob seine Mutter wiederfinden? Kann Hermann der Situation Zuhause entkommen?

"Heul doch nicht, du lebst ja noch" ist ein dichter, empathischer Roman, der klar Stellung bezieht, doch lässt Boie allen Figuren ihre Würde. Ihre klare, einfache Sprache entfaltet schnell einen Sog und nimmt nicht nur Jugendliche mit in eine Zeit, die bis heute prägt. Und der letzte Satz ist fast ein Versprechen:

"Alles ist anders. Und wer weiß. Vielleicht wird wirklich alles gut." Leseprobe

"Dies ist ja ein Buch für Jugendliche, aber schon für junge Jugendliche, ich denke, ab zwölf. Und da finde ich es immer schön, wenn es am Ende Hoffnung gibt. Aber nicht, wenn die der Wirklichkeit widerspricht. Und da ist mir so unglaublich entgegengekommen, dass tatsächlich von diesem Transport nach Theresienstadt, mit dem Jakobs fiktive Mutter gefahren ist, auch in der Realität praktisch alle Menschen zurückgekommen sind", sagt die Autorin abschließend.

 


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Heul doch nicht, du lebst ja noch

von Kirsten Boie
Seitenzahl:
176 Seiten
Genre:
Roman
Verlag:
Verlagsgruppe Oetinger
Bestellnummer:
978-3-7512-0163-6
Preis:
14,00 €

Dieses Thema im Programm:

Neue Bücher | 10.01.2022 | 12:40 Uhr

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