Rettig zum Transferwahnsinn: "Am Ende siegt der schnöde Mammon"
Die Bundesliga meldet einen Transferrekord, Spieler streiken sich aus ihrem Vertrag und 100 Millionen für einen Profi sind keine Schallmauer mehr. Der Kaufrausch der reichen Clubs spaltet die Zwei-Klassen-Gesellschaft im Fußball immer mehr. Andreas Rettig benennt die Probleme.
"60 Jahre und kein bisschen weise?" Im Jubiläumsjahr der Fußball-Bundesliga wird allerlei aus der Mottenkiste gekramt. Weltmeisterliches, Spektakuläres, Komisches - und mitunter auch Kritisches. Der mehr und mehr grassierende Transferwahnsinn mit einem Gesamtumsatz von inzwischen rund 1,8 Milliarden Euro in der Bundesliga dürfte dazugehören.
Die Anleihe an den Schlager von Schauspieler Curd Jürgens trifft so gesehen ins Schwarze - auch wenn es der frühere Geschäftsführer der Deutschen Fußball Liga (DFL), Andreas Rettig, im NDR Sportclub etwas anders formuliert: "Gegen wirtschaftlichem Irrsinn ist man nicht gefeit."
Kopfschütteln über Streik von Kolo Muani
Im Milliarden-Geschäft Fußball wird heute mehr denn je gefeilscht und getrickst. Gute Sitten erscheinen dabei wie ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten. Wie im Wechsel-Theater um Randal Kolo Muani, der keine Lust mehr auf seinen Vertrag bei Eintracht Frankfurt hatte, streikte und so seinen fürstlich entlohnten Abgang Richtung Paris Saint-Germain erzwang. Rettig: "Ein Streik bei einem Millionär - da kann man nur mit dem Kopf schütteln."
Dabei schien der Transfer schon gescheitert zu sein: Das Transferfenster in Deutschland war geschlossen - in Frankreich aber für ein paar Stunden noch geöffnet. So konnte der 95 Millionen Euro teure Deal bis Ultimo um Mitternacht noch eingetütet werden. Nicht nur zum Ärger der Eintracht-Fans, die ihrem Frust am Sonntag im Heimspiel gegen den 1.FC Köln (1:1) ordentlich Luft machten.
Rettig: "Verheerende Wirkung"
"Am späten Freitagabend haben wir ein Angebot erhalten, welches wir aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten im Sinne von Eintracht Frankfurt nicht ausschlagen konnten", so Sport-Vorstand Markus Krösche mächtig angesäuert. Welche Chance hätte der Club auch gehabt, dem erpresserischen Tun Einhalt zu gebieten und eine gedeihliche Zusammenarbeit fortzuführen?
Die früheren Dortmunder Ousmane Dembélé und Pierre-Emerick Aubameyang haben es in ähnlich bedenklicher Weise vorgemacht. Also liegt alle Macht bei den Spielern? "Ich verstehe die Vereine, aber es hat eine verheerende Wirkung"", sagt Rettig. Man könne standhaft bleiben, auf Vertragstreue pochen. "Und verbrennt viel Geld. Am Ende siegt der schnöde Mammon."
Füllkrug nach Dortmund - Werder finanziell im Zugzwang
Niclas Füllkrug habe bei seinem Wechsel zu Borussia Dortmund stets mit offen Karten gespielt. So will es Werder Bremen jedenfalls erlebt haben. Die mögliche Wechselfrist wurde dennoch ausgereizt, was wohl vor allem dem Boulevard gefallen haben dürfte. Ole Werner jedenfalls bekam eine zunehmend dickere Krawatte - wie es im Jargon heißt: "Jeder Trainer würde sich natürlich wünschen, dass der Kader mit Beginn der Saison steht."
War aber laut Werder nicht möglich, weil das Geld an der Weser knapp ist - und Verstärkungen nur möglich waren mit dem Transfererlös aus dem Füllkrug-Wechsel. Die erhofften 20 Millionen Euro wurden es allerdings nicht, kurz vor Toresschluss mussten sich die Grün-Weißen mit kolportierten 15 Millionen Euro aus Dortmund zufriedengeben.
Für die leeren Bremer Kassen sollen laut "transfermarkt.de" dennoch rund 20 Millionen Euro aus dieser Wechselperiode geblieben sein - und Ersatz für Nationalspieler Füllkrug wurde im bei Eintracht Frankfurt ausgeliehenen Rafael Borré auch kurzfristig gefunden.
Alles bestens also? "Der Wechsel nach Dortmund hat mich überrascht. Ob seine Rechnung aufgeht? Füllkrug ist ja nicht allein auf seiner Position", sagt Rettig, der von 2015 bis 2019 Geschäftsführer des FC St. Pauli war. "Aber er wird sich schon was dabei gedacht haben." Werder hat den Abgang fürs Erste unbeschadet überstanden - wenn das 4:0 gegen Mainz 05 als Beleg dafür gelten darf.
Rettig über Kane-Transfer: "Nicht das Ende der Fahnenstange"
Ohne Moos nichts los, hieß es auch beim deutschen Branchen-Primus Bayern München, der gleichfalls Transfereinnahmen nötig hatte, um die gut 100 Millionen Euro für Tottenhams Harry Kane - ein Rekord in der Bundesliga - finanzieren zu können. Ein Kane = sechs Füllkrugs. Ob ein Spieler eine solche Summe überhaupt wert sei, mochte Rettig so direkt nicht beantworten. Aber er ahnt: "Es wird nicht das Ende der Fahnenstange sein."
Sportswashing ohne Limit
Zum glücklichen Umstand wurde für den Rekordmeister dabei, dass in Al-Nassr aus Saudi Arabien ein Abnehmer für das 45-Millionen-Euro-Missverständnis Sadio Mané gefunden wurde, der wenigstens 30 Millionen Euro zu zahlen bereit war.
Geld spielt in dem Königreich am Persischen Golf keine Rolle. Kronprinz Mohammed bin Salman will sich weniger abhängig von Öl machen, investiert mittels des viele Milliarden schweren Staatsfonds Public Investment Fund (PIF) massiv in den Sport.
Sportswashing gegen das schlechte Image eines laut Amnesty International menschenverachtenden Systems. Wer Cristiano Ronaldo 200 Millionen Euro pro Jahr bezahlen kann, Neymar die Hälfte und selbst einem alternden Karim Benzema stattliche 50 Millionen Euro pro Saison überweist, "hat definitiv keine Limits mehr", so der Liverpooler Meister-Coach Jürgen Klopp.
Saudis im Kaufrausch
Die Pro League lockt alternde Superstars wie Christiano Ronaldo oder Neymar mit gigantischen Summen wie einst die "Operetten-Liga in den USA" (Rettig), der auch Pele und Frank Beckenbauer nicht widerstehen konnten. Nach Angaben von Global Soccer Network (GSN) hat die Liga in Saudi-Arabien schon drei Wochen, bevor das Transferfenster dort schließt, 820 Millionen Euro mehr ausgegeben als durch Transfers eingenommen.
Und die Saudis können ihren Kaufrausch noch bis zum 20. September fortsetzen - vielleicht auch in der Bundesliga. "Ein Nachteil für die Vereine", so Rettig, "die dann nicht mehr reagieren können, weil die Transferperiode bei ihnen beendet ist."
Premier League ist Krösus der Branche
Während in der Bundesliga knapp 1,8 Milliarden Euro (1.787.092.867) in der Transferperiode dieses Sommers umgesetzt wurden, waren es in der englischen Premier League laut Wirtschaftsprüfungs-Dienstleister Deloitte umgerechnet eine Milliarde Euro mehr (2.755.536.000).
Das sogenannte Mutterland des Fußballs ist der Krösus der Branche. Allein 48 Prozent der Gesamtausgaben in den fünf Top-Ligen Europas (LaLiga/Spanien, Bundesliga, Serie A/Italien, Ligue 1/Frankreich) entfallen laut Deloitte auf die Clubs der englischen Premier League.
Doch auch die Bundesliga hat mit einem ordentlichen Aufschlag im Vergleich zur Saison 2022/23 tüchtig investiert. Einnahmen von mehr als einer Milliarde Euro (1.040.063.380) stehen Ausgaben in Höhe von 747.029.487 Euro gegenüber.
Im Vorjahr wurden Einnahmen von 537.685.000 Euro und Ausgaben von 486.580.000 Euro bilanziert. Die italienische Serie A ist bescheidener: Teuerster Zugang war Verteidiger Benjamin Pavard, der für 30 Millionen Euro Ablöse vom FC Bayern München zu Inter Mailand wechseln durfte.
Dickes Konto wichtiger als sportlicher Erfolg?
Wie es scheint, müssen sich Tifosi wie auch Fußballfans in Deutschland, Spanien und Frankreich mehrheitlich damit anfreunden, dass in diesem Sommer nur der vorläufige Höhepunkt in der Spaltung der Zwei-Klassen-Gesellschaft markiert wurde. Dem Ruf des ganz großen Geldes folgen schließlich längst nicht mehr nur die alternden Stars.
"Es wird zum Problem, wenn nicht nur Spieler jenseits der 30 noch mal sagen, ich will den letzten großen Vertrag machen", so Rettig, "sondern jetzt schon Spieler Mitte 20, also im besten Fußballeralter sagen, mir ist das Mehren meines Kontos wichtiger als das Streben nach sportlichem Erfolg."