Fans der Deutschen Nationalmannschaft zeigen auf der auf der Tribüne Schilder © IMAGO / ULMER Pressebildagentur

Fanforscher über WM-Boykott: Keine Lust mehr auf den Fußball-Zirkus

Stand: 14.11.2022 10:10 Uhr

Menschenrechte, Korruption, Klimaschutz - die Fußball-WM in Katar gilt in vielerlei Hinsicht als Sündenfall. Nicht nur für die Fans wird es eine Zeit der Kompromisse, meint der Sportwissenschaftler Harald Lange.

von Andreas Bellinger

Es war einmal die Zeit der Fußball-Weltmeisterschaft, in der die Straßen wie leergefegt und die Menschen an den Fernsehschirmen hingerissen waren von den kickenden Stars aus aller Welt. Lang, lang ist's her, möchte man meinen. Denn die Stimmung vor dem ersten Anpfiff in Katar ist eine gänzlich andere. Die Vergabe der WM in ein Land, in dem Menschenrechte und Klimaschutz wenig zählen, und bei der - wie bei vielen Turnieren zuvor - der Verdacht der Korruption allgegenwärtig war, haben so manchem die Vorfreude auf das Spektakel genommen.

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Ein großer Ball mit der Jahreszahl 2022 steht auf einer Verkehrsinsel mit Kreisverkehr vor dem Trainigsgelände Al-Shamal sports Club in der Hafenstadt Al Ruwais. © picture alliance/dpa Foto: Christian Charisius

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Viele Fans haben angekündigt, die Spiele zu boykottieren und während der WM lieber beim Amateurfußball als bei den Shows in den Fußball-Palästen der Wüste zuzuschauen. Ob es wirklich zum großen WM-Fasten kommt, bleibt abzuwarten. Die teilnehmenden Spieler und Verbände haben sich längst entschieden.

Australier mit Video pro Menschenrechte

"Die WM ist einfach der Höhepunkt eines Fußballer-Lebens", sagt stellvertretend der Australier Jackson Irvine vom Zweitligisten FC St. Pauli im NDR. Wie das Gros seiner Kollegen weltweit lässt auch er keinen Zweifel aufkommen, dass der "Fußball unsere Priorität" ist.

Doch anders als viele Konkurrenten stellt sich die australische Nationalmannschaft dem Zwiespalt zwischen dem Zauber ihres Sports und der harten Kritik an der Winter-WM in der Wüste (20. November bis 18. Dezember). Die "Socceroos" beziehen klar Stellung zur Ausbeutung von Gastarbeitern, zu eklatanten Menschenrechtsverletzungen und fordern Katar mit einem Video auf, die gleichgeschlechtliche Ehe zu legalisieren. Klare Kante, die man so von deutschen Nationalspielern nicht kennt.

Meinungsfreudige Spieler? Lange kritisiert Klima im DFB

"Manche Spieler wären durchaus bereit, sich zu positionieren und ihre Meinung kundzutun", sagt der Fanforscher Harald Lange im Sportclub des NDR. "Aber letztlich ist das Klima an der Verbandsspitze nicht so, dass es solch klare Zeichen zulassen würde." Ein unsichtbarer Maulkorb also?

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Der Würzburger Professor für Sportwissenschaften und Gründer des Instituts für Fankultur hat bei den deutschen Profis eine gewisse Orientierungslosigkeit beobachtet. Man müsse wohl darauf warten, dass ein "Journalist etwas aus dem einen oder anderen herauskitzeln kann; dass der sein Herz ausschüttet und einfach sagt, was er von dieser ganzen Veranstaltung hält".

Hitzlsperger: Umfeld der Spieler nicht interessiert

Vielleicht schafft es der frühere Nationalspieler Thomas Hitzlsperger, der trotz aller Kritik und Bedenken als ARD-Experte am Golf im Einsatz sein wird. "Die Spieler sind umgeben von ihrem engen Beraterumfeld", sagt der 40-Jährige im "Zeit"-Interview. Dort werde mehr oder minder vorgegeben, was gesagt und welche Botschaft gesendet werden darf. "Ich weiß aus meiner eigenen Profizeit, dass dieses Umfeld an einer solchen Positionierung nur selten interessiert ist."

Thomas Hitzlsperger © Marijan Murat/Deutsche Presse-Agentur GmbH/dpa
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Fan-Boykott - abhängig vom Erfolg des DFB-Teams?

Nicht anzuecken, um die Karriere nicht zu gefährden - darauf müssen Fans keine Rücksicht nehmen. Sie haben sich in einem bislang nicht gekannten Maße längst positioniert und ihren Unmut gegen die WM mit Transparenten und Sprechchören in den Stadien kundgetan. Wie nachhaltig die Boykott- und "Fernseher aus"-Drohungen letztlich sein werden, wagt aber auch Fanforscher Lange nicht zu prognostizieren.

Auf einer blauen, quadratischen Kachel steht "SPOMV", für den Sportpodcast von NDR 1 Radio MV. © iStock Foto: golero
AUDIO: Folge 39 - Kommentator Gerd Gottlob vor der WM in Katar (26 Min)

Einerseits meint er, "dass wir, selbst wenn die deutsche Nationalmannschaft erfrischend spielen wird, diesen Boykott zu spüren bekommen". Vorstellen könne er sich aber auch, dass die Bestrebungen "ein Stück weit im Abseits stehen, wenn die Nationalmannschaft erfolgreich spielen sollte".

Fanforscher: Desinteresse am Fußball wird größer

Lange hält die WM-Vergabe nach Katar nicht für komplett ursächlich für den kritischer werdenden Blick auf die Branche. Es ist vielmehr ein Prozess, ein wachsendes Unbehagen über bestimmte Entwicklungen in der Parallelwelt Profifußball: "Da schwingt ganz viel Enttäuschung, Frustration und aufkommendes Desinteresse an diesem Fußball-Zirkus mit." Alle Welt würde davon ausgehen: Das sind alles Aktivisten; die wollen ein Zeichen setzen. Das sei aus seiner Sicht aber die kleinere Gruppe unter den Fußball-Zuschauern - die größere dagegen sage: "Was soll dieser ganze Zauber? Es interessiert mich nicht mehr."

Umfrage: Mehr als die Hälfte will WM-Turnier ignorieren

In einer repräsentativen Umfrage im Auftrag der ARD-Sportschau und des Morgenmagazins von ARD und ZDF gaben 56 Prozent der von infratest dimap Befragten an, das Turnier im Wüstenstaat ignorieren zu wollen. Weitere 15 Prozent wollen weniger Spiele als sonst angucken. In gewohnter Weise wollen nur 18 Prozent die WM verfolgen. Einigermaßen überrascht hat bei der Umfrage, dass neben der Kritik am Gastgeber genau die Hälfte aller Befragten angab, ein Desinteresse am Fußball allgemein zu haben. Wasser auf die Mühlen derer, die Katar als Indikator für die Abkehr selbst hartgesottener Fans vom Profifußball sehen?

Lange: Ethische Ansprüche mit Füßen getreten

"Fußball ist etwas, was mit sehr vielen Emotionen aufgeladen wird. Wir haben sehr hohe ethische Erwartungen an den Fußball", so Lange. "Deshalb sind wir so irritiert, dass vor allem die FIFA, aber auch das Gastgeberland diesen ethischen Ansprüchen nicht gerecht werden." Narrative wie: Ohne die WM wäre alles noch viel schlechter in Katar, glaube den Funktionären und sogenannten Leitfiguren im großen Sport ohnehin kaum noch jemand. Lange: "Damit können sie sich nicht mehr davonstehlen."

Human Rights Watch: "Katar ist ein Sündenfall"

Olympische Spiele in China, Fußball-WM in Russland - nicht nur Menschenrechtsorganisationen haben Zweifel an der Wirkkraft großer Sport-Events auf gesellschaftliche Entwicklungen in den Gastgeberländern. "Katar und FIFA hatten über zehn Jahre Zeit, die Situation zu verbessern", sagt Wenzel Michalski, Deutschland-Chef von Human Rights Watch. "Sie haben diese Zeit verstreichen lassen, es ist kaum etwas passiert. Katar ist ein Sündenfall."

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Auch in puncto Rechte der queeren Community. Homosexuelle müssen in dem Emirat am Persischen Golf mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen. Zwar versprachen die WM-Macher: "Wir heißen alle willkommen; wollen aber auch, dass unsere Kultur respektiert wird." Aber es ist fraglich, wie weit her es damit ist. WM-Botschafter Khalid Salman bezeichnete in einer TV-Dokumentation Schwulsein als "geistigen Schaden". Nicht erst seit dieser Äußerung haben Lesben- und Schwulenverbände größte Bedenken bei geplanten Reisen ins WM-Land.

Fan-Boykott contra Fußball-Leidenschaft

Lange hat durchaus Verständnis für die ambivalente Situation derer, die einerseits ihren Protest durch einen TV-Boykott ausdrücken wollen, andererseits den Verzicht aber womöglich nicht durchhalten, wenn der Ball erst einmal rollt. "Das spiegelt genau die schwierige Lage wider, in der sich viele Fans befinden", sagt der Fanforscher: "Das alles ist total bedrückend, aber unsere Fußball-Leidenschaft ist dennoch so groß. Wir schauen nur die Spiele der deutschen Nationalmannschaft. Diesen Kompromiss höre ich am häufigsten."

Es klingt ein bisschen wie ein Spieler-Statement nach dem Motto: "Es gibt einige Punkte, die man kritisch sehen muss. Jetzt ist es wichtig, deutlich vorzuleben, welche Werte in Europa, in unserer Kultur gelebt werden."

Fan-Vorschlag: Prämien spenden für Gastarbeiter

Letztendlich wird diese Weltmeisterschaft wohl für viele Beteiligte eine Zeit der Kompromisse. Zumal viele Kneipen bewusst keine Spiele zeigen und statt Public Viewing Weihnachtsmärkte angesagt sind. Aber das Turnier findet nun mal in dieser Form statt - und die Frage ist, ob es dennoch die Möglichkeit einer ideellen Wertschöpfung geben kann.

"ProFans" und zahlreiche weitere Fanvertretungen fordern vom Deutschen Fußball-Bund (DFB) den Verzicht auf WM-Preisgelder zugunsten eines Entschädigungsfonds für Angehörige von Verletzten oder zu Tode gekommene Arbeitsmigranten. Ob Vorstöße wie dieser Gehör finden werden, wird sich zeigen.

Hildebrandt: "Es liegt ein Schatten über der WM"

Dass die Spitzenfunktionäre im internationalen Fußball aus der Causa Katar Lehren für die Zukunft ziehen, bleibt indes wohl nur ein frommer Wunsch. "Es liegt ein Schatten über der WM", sagt Stephan Hildebrandt im NDR Sportclub, der als Fußball-Manager der Aspire Academy längere Zeit in Katar gelebt hat. "Man will sich eigentlich freuen und denkt auch an die Sportler, die ein solches Turnier möglicherweise nur einmal in ihrer Karriere erleben. Aber es ist längst an der Zeit, über das Vergabesystem der FIFA nachzudenken."

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Dieses Thema im Programm:

Sportclub | 13.11.2022 | 22:50 Uhr

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