Vereine am Limit: Statt Sport nur Warteliste für Kinder

Stand: 20.12.2023 05:00 Uhr

NDR Recherchen zeigen: Viele Kinder und Jugendliche in Schleswig-Holstein kriegen keinen Platz im Sportverein. Übungsleitende und Hallen fehlen. "Unsäglich", findet der Landessportverband. Die Vereine suchen Auswege.   

von Ole ter Wey, Saïda Belaatel

Die Augen weit geöffnet. Volle Konzentration. Ein letzter kraftvoller Sprung mit ein ganz klein bisschen Hilfe von Mama, dann hat es die dreijährige Marla geschafft: Den Parcours aus schwingenden Seilen, aufgespannt zwischen den Sprossen am Barren. Einmal drückt Marla ihre Mama voller Stolz, dann sprintet sie im Zickzack durch die volle Halle. Weiter hinten hat Kursleiterin Simone Hille aus Sprungböcken und Sportbänken eine Art Rutsche aufgebaut. 

Herausforderungen meistern - das lernt die kleine Marla im Kurs. Dass sie überhaupt einen Platz bekommen hat, war vor allem eine Herausforderung für Marlas Mutter. "Meine Freundin hat einen Sohn im gleichen Alter. Das ist Marlas Kumpel Jona. Der wäre auch gern hier gewesen." Aber: keine Chance. Beim Eltern-Kind-Turnen gibt es Wartelisten von zum Teil mehr als einem Jahr, im gesamten Kreis Pinneberg.

Jahrelang warten

Kinder abweisen zu müssen, "das bricht mir wirklich das Herz", sagt Kursleiterin Simone Hille. Das verursache ihr Magenschmerzen und Kopfschmerzen. Aber noch mehr Kinder im Kurs hieße, dass sie sich nicht mehr ausreichend um alle kümmern könnte. Das Verletzungsrisiko würde steigen. "Das geht ja auch nicht", meint sie. Eine verzwickte Situation - an der sie allein nichts ändern kann. Es brauche schlicht mehr Übungsleitende.

Fast alle Kreise betroffen

Allein der Kreis Pinneberg hat seit 2020 rund 130 lizenzierte Übungsleitende verloren. Karsten Tiedemann vom Kreissportverband Pinneberg vermutet, die längeren Pausen durch Corona seien schuld daran. Ehrenamtliche hätten damals endgültig entschieden, "jetzt ist auch mal gut" - und ihr Ehrenamt langfristig aufgegeben. Nach Corona ist der Andrang in den Sportvereinen aber wieder riesig: Kinder und Jugendliche sind zurückgekehrt - die Ehrenamtlichen nicht. 

In ganz Schleswig-Holstein mangelt es auch an Hallen. Das mache sich besonders im Winter bemerkbar, erklärt Tiedemann weiter. Vertreter von Sportarten, die sonst draußen stattfinden, wünschen sich auch mal drinnen zu trainieren. Hallenzeiten gibt es für sie aber nicht mehr. 

"Die Tatsache, dass Kinder vor einer verschlossenen Turnhallentür stehen, ist unsäglich." Die Kinder in Bewegung zu bringen, sei höchste Priorität, findet Thomas Niggemann vom Landessportverband.

Letzter Ausweg: Flur

Auch der Volleyball-Kurs in Halstenbek (Kreis Pinneberg) ist voll. Wartelisten gibt es hier aber trotzdem nicht. "Volleyball ist eine Randsportart und wir möchten allen ermöglichen, daran teilzunehmen", sagt die Geschäftsführerin der Halstenbeker Turnerschaft, Heike Opderbeck. Um das zu ermöglichen, musste der Verein notgedrungen kreativ werden: Die Hälfte der Jugendlichen muss zum Aufwärmen auf den Flur. "Wir versuchen, soweit es geht, allen gerecht zu werden. Wir können ja auch nicht verlosen, wer mitmachen darf. Das wäre ja unfair", meint Opdebeck. 

So können alle mitmachen, aber eine nachhaltige Lösung sei das natürlich auch nicht, findet die 17-jährige Wenke. "Wir müssen uns am Rand warm machen, da wo die Taschen immer stehen. Das ist einfach nervig und anstrengend, auch für die Trainer." 

Übungsleitende müssen her

Wie nachhaltige Lösungen aussehen können, diskutieren jetzt der Landessportverband, die Kreissportverbände und Vereine im Land. Als erstes sollen alle Kreissportverbände herausfinden, wie viele Vereine in welchen Sportarten betroffen sind. Das hat bisher nur der Kreissportverband Pinneberg erfasst - und macht erste konkrete Vorschläge: "Vielen ist die Ausbildung zum lizenzierten Übungsleiter zu lang", vermutet Tiedemann. Die reguläre Ausbildung umfasst 120 Stunden. Er schlägt deshalb eine Kurzversion vor, zum Beispiel als "Bewegungscoach". 

Eine andere Idee: Die Ehrenamtspauschale erhöhen. Denn wegen der Inflation bräuchten gerade alle mehr Geld, so Tiedemann. Ein unbezahltes Ehrenamt wäre da unattraktiv und für viele gar nicht mehr möglich. Trotzdem sein flammender Appell: "Engagiert euch in den Sportvereinen. Eure Kinder, die da drin sind, sind der Sportverein. Nicht der Vorstand ist der Sportverein, sondern die Menschen, die Mitglied sind im Verein."

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Dieses Thema im Programm:

Schleswig-Holstein Magazin | 20.12.2023 | 19:30 Uhr

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