Immer mehr Jugendliche in SH fühlen sich psychisch belastet

Stand: 18.01.2024 15:07 Uhr

Vor der Corona-Pandemie fühlte sich jeder fünfte Jugendliche psychisch belastet, heute ist es fast jeder dritte. Einen Therapieplatz zu bekommen, ist fast unmöglich. Expertinnen fordern, Jugendliche durch ein Unterrichtsfach "Seelische Gesundheit" besser zu unterstützen.

von Corinna Below

Das Gymnasium in Bad Segeberg (Kreis Segeberg) hatte angefragt. Jetzt sind sie da. Die ehrenamtlichen Expertinnen des Vereins "Psychiatrie in Bewegung". Die Jugendlichen einer 9. Klasse der Dahlmannschule sitzen im Kreis. "Wir reden heute über psychische Erkrankungen, aber auch über Süchte." Nachdem die Vorsitzende des Vereins Andrea Rothenburg sich und ihr Team vorgestellt hat, bezieht sie gleich die Schülerinnen und Schüler mit ein. Sie will will wissen, welche psychischen Krankheiten sie kennen: "Depressionen, ich glaube, davon habt ihr alle schon gehört." Einige melden sich. Depressionen und Schizophrenie kennen sie. "Ich weiß, dass es so etwas gibt", sagt Bela. Er findet es wichtig, dass sie hier mehr erfahren, "weil, wir sind ja alles Menschen. Und es kann jeden treffen."

Übermüdeter Schüler © Fotolia.com Foto: LVDESIGN
AUDIO: Psychische Probleme: Kaum Therapieplätze für Kinder in SH (1 Min)

Eindruck der Schüler: Es wird weniger darüber gesprochen

Andrea Rothenburg liefert erst einmal theoretischen Input: Welche psychischen Erkrankungen gibt es? Was genau ist eine Sucht? Sie zeigt Aufklärungsvideos, die sie mit Betroffenen gedreht hat. Die Jugendlichen sind sehr aufmerksam. Keiner lacht, keiner stört. Im Gegenteil - Marie ist dankbar, dass sie heute an diesem Workshop teilnehmen darf. "Ich finde es superwichtig, weil ganz viele Leute, vor allem jetzt in diesem Alter, damit Probleme haben. Und es wird sehr, sehr wenig darüber gesprochen."

Der Rücken von einer Frau, welche mit Jugendlichen im Gespräch ist. © NDR Foto: NDR
Für die Jugendlichen ist das meiste, was sie in dem Workshop lernen, neu.
Zu wenig Therapieplätze

Ab und zu kommt Schulleiter Timm Emser rein und setzt sich dazu. Er ist neugierig. Das Team von "Psychiatrie in Bewegung" an die Schule zu holen, sei nur ein erster Schritt. "Wir sehen, dass immer mehr Schülerinnen und Schüler Hilfe brauchen, aber sie nicht bekommen", sagt er. Das Versorgungssystem sei nicht auf die gestiegenen Zahlen ausgelegt, meint er. Kinderpsychiaterin Anna Vetter bestätigt seinen Eindruck. Sie ist Chefärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie an den Regio-Kliniken Elmshorn (Kreis Pinneberg). "Wir haben nach wie vor eine lange Warteliste und nicht genügend Möglichkeiten, die Patienten schnell zu versorgen. So, wie sie es eigentlich bräuchten."

Viele Jugendliche fühlen sich ausgeschlossen

Die, die zu ihr in die Klinik kommen, haben Magersucht, Depressionen, verletzen sich oder andere. Die sogenannte Copsy-Studie, für die das Hamburger Uni-Klinikum (UKE) seit der Corona-Pandemie einmal im Jahr 1.000 Kinder und Jugendliche im Alter von 11 bis 17 Jahren befragt, besagt: Wo sich vor Corona jedes fünfte Kind psychisch belastet fühlte, ist es heute jedes dritte. Für Anna Vetter war der Corona-Lockdown aber nur das "Brennglas", wie sie es nennt, der Beschleuniger.

Sie sieht das Problem vor allem in Smartphones und Social Media. Die Jugendlichen fokussierten "ihr Gehirn auf Witsch, Witsch, Witsch und auf Endorphin-Ausschüttung", sagt sie. So werde eine Suchtprogrammierung in dem jungen Gehirn verankert. Die Jugendlichen ließen sich über das Smartphone durch Impulse versorgen, die von einem Gerät kämen. "Sie langweilen sich nie, sie gehen nie auf die Suche und gucken, was es in der Welt zu finden gibt." Sie kämen nicht dazu, die anderen Sinne zu nutzen. "Soziale Kompetenzen können sie von einem Mobiltelefon gar nicht lernen." Die Folgen dieser fehlerhaften Entwicklung sehe sie täglich in ihrem Behandlungszimmer.

Am UKE gibt es eine Ambulanz zur Früherkennung und -behandlung psychischer Störungen junger Menschen.

Anna Vetter die Chefärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie an den Regio-Kliniken Elmshorn. © NDR Foto: NDR
Die Kinderpsychiaterin Anna Vetter macht klar: Es gibt zu wenige Therapieplätze.
Forderung: ein Unterrichtsfach als präventive Maßnahme

Jedes dritte Kind ist also betroffen. Das könnten die niedergelassenen Therapeutinnen und Therapeuten, Kliniken und ambulanten Hilfen nicht auffangen, so Vetter. Deswegen fordert sie, die Schulen mit einer umfassenden Gesundheitsprävention in die Pflicht zu nehmen. Das schleswig-holsteinische Bildungsministerium hat nach eigenen Angaben auf die Problematik reagiert und unter anderem Beratungsangebote und Möglichkeiten zur Fortbildung für Lehrkräfte eingerichtet.

Das reiche nicht aus, sagt auch Andrea Rothenburg. Es müsse ein Schulfach geben, das alle Schülerinnen und Schüler erreichen könne. "Mir ist das Thema eine ganz besondere Herzensangelegenheit, weil ich die Not von jungen Menschen sehe, die mit ihren Problemen allein bleiben, mit Überforderung zu tun haben". Sie würden sich von sich aus kaum Unterstützung holen, weil sie nicht ausreichend informiert seien. "Und wir wissen ja", ergänzt die Aktivistin, "je eher eine psychische Belastung behandelt wird, desto besser ist es." So könne verhindert werden, dass sie verfestigt.

VIDEO: Workshops über psychische Gesundheit an Schulen (4 Min)

Betroffene erzählen den Jugendlichen von ihrem Leidensweg

Andrea Rothenburg hat zwei sogenannte Erfahrungsexpertinnen mitgebracht. Melanie Gotschnig hat eine Borderline-Störung, das heißt, sie hat mehrere psychische Störungen. Sie erzählt den Jugendlichen ihre Geschichte, auch, dass sie Drogen genommen, sich selbst verletzt hat und 20 Mal in der Klinik war. Krank sei sie aber schon als Kind gewesen. Leider habe sie damals keine Hilfe gehabt. Ein Schüler fragt: "Mit wie vielen Jahren wusstest du, dass du diese Störung hast?"

Verena Klose steht neben einer selbst gebauten Box und erzählt einer Gruppe ihre Geschichte. © Corinna Below Foto: Corinna Below
Verena Klose hat in der Psychiatrie eine "Biografie-Kiste" gebaut, anhand derer sie ihre Geschichte erzählt.

Die Schülerinnen und Schüler haben viele Fragen. Jede wird beantwortet. Auch Verena Klose erzählt - von ihrer Bipolarität. Sie erklärt, dass sie sowohl depressive Phasen, als auch manische Phasen habe und was das bedeutet. Eine Schülerin erzählt, dass sie Menschen kenne, bei denen das so ähnlich sei.

Betroffene erzählen - Schüler lernen

Nach drei Stunden ist der Workshop schon vorbei und die Jugendlichen ziehen Bilanz. "Es hat mich sehr emotional gemacht", sagt Luisa. Sie habe gelernt, dass sie sich im Fall der Fälle jemanden zum Reden suchen solle. Max fand es "sehr gut, dass wir Einblicke bekommen haben, dadurch, dass Betroffene erzählt haben." Andrea Rotenburg und ihr Team sind sich mit der Schule und den Schülerinnen und Schüler einig: Ein Fach "Psychische Gesundheit" oder mindestens Workshops wie diese sollte es regelmäßig und für alle Schülerinnen und Schüler geben. Nächsten Monat kommt das Team auf jeden Fall wieder, um die Lehrkräfte zu schulen.

Wie erkenne ich, dass mein Kind Hilfe braucht?

Wichtig sei, dass Eltern Veränderungen an ihrem Kind bemerken, so Kinderpsychiaterin Anna Vetter. Erste Anzeichen wären zum Beispiel, wenn das Kind normalerweise ausgeglichen ist, jetzt aber aggressiv reagiert oder wenn es eigentlich selbstbewusst und lebhaft ist und sich plötzlich extrem zurückzieht und tieftraurig ist. Eltern sollten mit ihren Kindern im Gespräch sein, regelmäßig mit ehrlichem Interesse nachfragen, wie es ihm geht, es einladen, über seine Empfindungen zu sprechen, um herauszufinden, wie schlecht es ihm geht. Hat es irrationale Ängste, hat es Zwänge entwickelt? Verletzt es sich selbst?

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