Ausstellung: Kinderkurheime - Orte der Erholung oder der Gewalt?

Stand: 25.06.2023 06:00 Uhr

Bis in die 1990er-Jahre wurden in Deutschland Kinder "zur Erholung" auf Kinderkur geschickt - unter anderem nach St. Peter-Ording (Kreis Nordfriesland). Für viele Kinder wurden die Einrichtungen zum Trauma. Eine Ausstellung soll nun einen differenzierten Blick auf das Thema werfen.

von Sven Jachmann

Claudia Johannson war sechs Jahre alt, als ihre Eltern sie in Köln in den Zug setzten. "Da saß ich dann ganz allein und fuhr sechs Stunden nach St. Peter-Ording. Zwar waren im Zug auch Betreuer und andere Kinder, aber ich verstand nicht wirklich, was mit mir passierte." Warum sie verschickt wurde, weiß sie gar nicht mehr so genau. Es waren die 1970er-Jahre. Sie war ein dünnes Mädchen, das könnte der Grund gewesen sein. Sicher ist sie sich nicht. Ziel war der Birkenhof, ein kleines privates Heim in St. Peter-Ording, in dem sie vier Wochen bleiben musste.

"Den Namen konnte ich nur erinnern, weil ich eine Postkarte an meine Eltern gefunden hatte, auf der der Name des Hauses stand." Auf der Karte nur ein Satz: "Es sind nur noch 14 Tage." Ein rotes Herzchen hatte sie dazu gemalt. Mit anderen Worten: Bald ist es vorbei. "Ich hatte ein unglaubliches Heimweh." Der Brief, den sie an ihre Eltern schicken wollte, wurde ihr von der Heimleitung wieder vorgelegt. "So schlimm sei es hier ja nun nicht", bekam sie zu hören. Der Brief kam nie bei ihren Eltern an.

"Ich hatte ein unglaubliches Heimweh." Claudia Johannson vom Verein "Verschickungskinder St. Peter Ording e.V."

Essenszwang, militärischer Ton und jeden Mittag zwei Stunden regungslos liegen bleiben müssen und schlafen - das sind ihre Erinnerungen. Heute gehört sie zu dem Verein "Verschickungskinder St. Peter-Ording e.V." Dort melden sich immer noch Menschen, die schlimme Erinnerungen an ihre Verschickung hatten. Der Verein hatte die Idee zu der Ausstellung.

Forscher der Uni Kiel haben Studie erstellt

Die Ausstellung "Kinderkurheime in St. Peter-Ording: Orte der Erholung, Orte der Gewalt?" ist bundesweit die erste ihrer Art. Sie wurde am 10. Juni 2023 im Museum "Landschaft Eiderstedt" in St. Peter-Ording, einem historischen Backsteinbau, eröffnet. Prof. Dr. Peter Graeff und Dr. Helge-Fabien Hertz von der Uni Kiel hatten in zweijähriger Arbeit eine Studie zu den Kinderkurheimen erstellt. "Uns geht es um einen differenzierten Blick, denn es haben sich auch Menschen gemeldet, die dort eine gute Zeit hatten", sagt Helge-Fabien Hertz. Claudia Johannson stimmt dem soweit zu. "Wir haben nie bestritten, dass es auch positive Erfahrungen gab. Es darf aber nicht gegeneinander aufgerechnet werden. Ein positiver Bericht macht einen negativen Bericht nicht wieder heil. Da müssen wir aufpassen, dass das nebeneinander stehen bleiben kann, aber nicht gegeneinander aufgerechnet wird."

Texttafeln und Originalberichte

Auf mehreren Texttafeln haben die Wissenschaftler das Thema dargestellt. Aussagen von ehemaligen Verschickungskindern und Erzieherinnen können sich die Besucher an einer Station anhören. Ein handschriftlicher Brief ist abgebildet. Eine Betroffene schreibt, es tue ihr leid, dass es vielen Kindern während der Kur so schlecht ging - bei ihr sei es nur positiv gewesen.

An anderer Stelle sind zwei ehemalige SS-Verbrecher abgebildet, die zwei der mehr als 40 Heime in St. Peter-Ording geleitet hatten. Eine Tafel befasst sich mit dem Begriff der "Schwarzen Pädagogik". Hier aber gäbe es noch Forschungsbedarf, sagt Helge-Fabien Hertz. "Beides - NS Ideologie und schwarze Pädagogik - sind schwierige Themen, die wir noch nicht abschließen konnten und wollten. Da bedarf es noch weiterer Forschung."

"Es gibt keine einfachen Antworten - das Thema ist komplex und kontrovers"

Während ihrer Forschungsarbeit merkten die Wissenschaftler, wie komplex das Thema "Kinderverschickung in St. Peter Ording" ist. Das liegt allein schon an den Erzählungen und Erinnerungen der direkt Betroffenen, inklusive des Heimpersonals. "Das hat nochmal einen ganz anderen Blick auf die Dinge und weist Schuld von sich", sagt Helge-Fabien Hertz. Die Resonanz aus Landes- und Kommunalpolitik zur Ausstellung war bisher positiv, wie er berichtet. Anders ist es bei den Besuchern: "Uns wurde vorgeworfen, dass wir das Thema herunterspielen würden, was die Gewalt anbelangt. Umgekehrt wird uns aber auch das genaue Gegenteil vorgeworfen."

"Das Thema ist kontrovers und komplex, es lässt keine einfachen Antworten zu." Dr. Helge-Fabien Hertz von der Universität Kiel

Ausstellung bis Dezember

An einer Station liegen Zettel in Karteikartengröße aus. Hier können Besucher ihre Erfahrungen über ihre Kinderkur in St. Peter-Ording hinterlassen. Für Claudia Johannson würden diese Zettel wohl kaum ausreichen. Zu viel hätte sie zu erzählen, zumal sie trotz ihrer negativen Erfahrungen von ihren Eltern ein zweites Mal zur Kur geschickt worden ist, diesmal nach Rheinland-Pfalz - wieder für mehrere Wochen. "In der ersten Woche hatte ich die Röteln, ich wurde komplett isoliert." Das Essen wurde ihr über eine Klappe ins Zimmer geschoben. Diese Erfahrungen hatten Langzeitfolgen. Sie weigerte sich später an Klassenfahrten teilzunehmen, konnte nicht einmal mehr woanders übernachten. Es gibt demnach eine Menge aufzuarbeiten.Die Ausstellung kann da nur ein Anfang sein.

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Sankt Peter Ording in Nordfriesland, Kinderheim Heimattreue, spielende Kinder © picture alliance / Arkivi/akpool GmbH | Foto: picture alliance / Arkivi/akpool GmbH |

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Dieses Thema im Programm:

Schleswig-Holstein Magazin | 21.06.2023 | 19:30 Uhr

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