Angst vor dem Amt: Studie aus Göttingen zu Wohnungslosigkeit

Stand: 14.03.2024 13:28 Uhr

Armut, Lebenskrisen und unwürdige Notunterkünfte sind laut der Studie nur einige Ursachen für Wohnungslosigkeit. Soziologe Timo Weishaupt kritisiert vor allem die Bürokratie des Sozialstaats.

von Saïda Belaatel und Wieland Gabcke

Sind Wohnungslose selbst schuld an ihrer Situation? Darauf gibt der Göttinger Soziologe Timo Weishaupt eine entschiedene Antwort: "Nein, auf jeden Fall nicht!" Das sei auch der Anlass gewesen, warum er die Studie gemacht habe, sagt der Göttinger Uni-Professor. Drei Bereiche wurden untersucht: Die Biographien von Betroffenen, der Mangel an Wohnraum und die Rolle des Sozialstaats. Weishaupt und sein Team haben dafür 59 Experten und Expertinnen sowie 31 Betroffene aus Göttingen, Kassel und Paderborn interviewt und die Aussagen anschließend ausgewertet. Ergebnis: Wohnungslose sind in der Regel sehr arm und wurden durch traumatisierende Erlebnisse aus der Bahn geworfen. Die Mieten sind zu teuer, gerade in Ballungsgebieten. Und im Sozialstaat gebe es für Wohnungslose zu viele Hürden, um aus ihrer Situation herauszukommen.

Bürokratie des Sozialstaats wirkt abschreckend auf Wohnungslose

"Zum Sozialstaat gibt es noch recht wenig Forschung, das ist sozusagen mein Steckenpferd", sagt Weishaupt. Dabei hat er festgestellt, dass die Betroffenen einfach Angst vor Behördengängen hätten und sich überfordert fühlten, allein schon den Kontakt herzustellen. Hinzu kommen die Formulare. "Wenn man sich mal so einen Antrag auf Bürgergeld anschaut, sind es mehrere Seiten, die da auszufüllen sind mit vielen Nachweisen, die zu erbringen sind", sagt der Soziologe. Ohne Hilfe von Sozialarbeitern seien die Betroffenen häufig nicht in der Lage, diese auszufüllen. Die Gespräche mit den Betroffenen hätten gezeigt, dass Behördengänge eine große Hürde sind.

Sozialarbeiterin: Überforderten Wohnungslosen werden Leistungen verweigert

Das kann Melanie Bornemann von der Diakonischen Gesellschaft Wohnen und Beraten in Göttingen bestätigen. Wenn ein Apartment frei ist, nimmt die Einrichtung Wohnungslose sofort auf. Zusammen mit den Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern stellen sie dann Anträge, um bleiben zu können. "Die Leute, die hier sind, die haben soziale Schwierigkeiten und die kennen sich mit den Ämtern und Wegen gar nicht so gut aus", sagt Bornemann. Häufig verstünden sie die Sprache nicht und schafften es nicht, sich an die Zeiten zu halten, wenn die Ämter erreichbar sind. "Sie können nicht gut ausdrücken, was sie möchten und wenn Unterlagen fehlen, werden die Leistungen schlussendlich auch verweigert aufgrund von fehlender Mitwirkung", so die Leiterin der Einrichtung.

Besser in der Unterkunft oder auf der Straße leben?

Der Wohnungslose Christian Henf vor einer Unterkunft. © NDR Foto: Saïda Belaatel
Der Wohnungslose Christian Henf lebt in ständiger Angst, die Unterkunft wegen eines nicht genehmigten Antrags verlassen zu müssen.

Obdachlose sind nur der sichtbare Teil der Wohnungslosen. Christian Henf ist wohnungslos, hat aber über 20 Jahre auf der Straße gelebt. Er erzählt, dass er sich als Jugendlicher in Holzminden vier Jahre lang einer Schaustellergruppe angeschlossen hatte, Alkoholprobleme bekam, ins Gefängnis musste und danach mittellos und obdachlos wurde. Nun wohnt er seit ein paar Monaten in der Unterkunft für Wohnungslose in Göttingen. Dafür muss er immer wieder Anträge stellen. "Wenn der Kostenträger dann nur sechs Monate genehmigt, lande ich wieder auf der Straße", sagt Henf. Anderseits ist er sich nicht sicher, ob die Straße vielleicht doch die bessere Option sei. "Hier kriegt man jede Woche montags 79 Euro Taschengeld", sagt der 61-Jährige. Wenn er auf der Straße um Geld fragt, habe er mehr. Dennoch wünscht sich Christian Henf von der Politik mehr Einrichtungen dieser Art. Ohne dabei die Angst haben zu müssen, wegen eines nicht genehmigten Antrags wieder gehen zu müssen.

Soziologe Weishaupt plädiert für mehr Empathie für Wohnungslose bei Ämtern

Auch Timo Weishaupt spricht sich für ein Hilfesystem aus, das mehr auf die Menschen zugeht und bürokratische Hürden abbaut. "Einfach ein bisschen mehr Empathie zu zeigen wäre vielleicht ein großer, richtiger Schritt", sagt der Soziologe. Hinzu kämen Kleinigkeiten, die abschreckten. Etwa, dass auf der Seite der Stadt Göttingen nicht erkennbar sei, ob die Angestellten beim Sozialamt männlich oder weiblich seien. "Wohnungslose Frauen wollen aber auch lieber mit Frauen beim Amt sprechen", so Weishaupt. Gleichzeitig habe er in seiner Studie auch festgestellt, dass viele wohnungslose Frauen gar nicht auf das Amt gehen wollten, weil sie sich schämten. Wie viele Menschen in Niedersachsen wohnungslos sind, lässt sich nicht beziffern. Für Göttingen schätzt Timo Weishaupt, dass es mindestens 400 Menschen sind.

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