Stand: 12.05.2015 17:08 Uhr

Streik: Arbeitskampf auf dem Rücken der Eltern

von Linda Luft, Esra Özer & Anne Ruprecht

Seit Freitag streiken Erzieherinnen und Erzieher in Deutschland. Sie fordern eine größere Wertschätzung ihres Berufes und eine Lohnsteigerung von zehn bis 15 Prozent. Mittlerweile sind kommunale Kindertagesstätten im gesamten Bundesgebiet betroffen - und ein Ende des Streiks ist nicht absehbar. Die Solidarität mit den Streikenden ist zwar groß, doch gerade für berufstätige Eltern ist der Arbeitskampf eine enorme Belastung. Zehntausende Familien müssen jetzt die Betreuung ihrer Kinder selbst organisieren - und stoßen an ihre persönlichen Grenzen. Wie lange können Eltern und ihre Arbeitgeber den Betreuungsnotstand noch auffangen?

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Hilfe von den Großeltern - oder Urlaub

Schon an den Vormittagen sind die Spielplätze voll mit Kindern und ihren Eltern oder Großeltern. Silke und Uwe Spiller* (Name von der Redaktion geändert) sind extra aus Hannover angereist. Sie sind Rentner, haben sich eine Woche freigeschaufelt und halten ihrer Tochter so den Rücken frei. Was die Familie aber macht, wenn der Streik länger dauert  - ungewiss: "Also diese Woche dann auf jeden Fall hierbleiben. Das wird auf jeden Fall dauern und was dann kommt wissen wir noch nicht."

Längst nicht alle können auf die Hilfe der Großeltern setzen. Anja Post-Martens musste Urlaub nehmen, um ihre Kinder zu betreuen. Wenn der Streik weitergeht, müsste sie sie mit zur Arbeit nehmen - andere Alternativen hat sie nicht: "Nun arbeite ich als Sozialpädagogin und setze auf viel Verständnis von meinem Arbeitgeber, aber trotzdem ist das ein hoher Organisationsaufwand."

Notbetreuung als kurzfristige Lösung

Andere Eltern haben Glück, dass ihre Kita für einige Kinder eine Notbetreuung anbietet. Dort konnte Kathleen Kania ihre 18 Monate alten Zwillinge unterbringen. Doch die Plätze sind schnell besetzt: "Wir sind jetzt noch zwei Tage in die Notbetreuung gekommen, aber danach müssen wir schauen, dass wir uns abwechselnd Urlaub nehmen, weil wir keine Großeltern in der Nähe haben, die sind einfach zu weit weg." 

Um die Notbetreuung in ihrer Kita zu gewährleisten, müssen sich auch die Eltern engagieren. Bianca Stachoske ist in Mutterschutz und passt in der Hamburger Kita Markusstraße auf die Kinder auf, darunter auch ihr eigener Sohn: "Wir versuchen zu unterstützen, wo wir nur können. Berufstätige Mütter müssen sich ja auch irgendwie organisieren und ich würde mich selbst auch freuen, wenn mir jemand hilft." Insgesamt 160 Kinder kommen jeden Tag hierher. Ein wuseliger Haufen, gerade in Zeiten des Streiks. Hier ein bisschen Vorlesen, dort ein bisschen trösten - was normalerweise 25 Erzieher bewerkstelligen müssen, machen heute ersatzweise insgesamt sieben Väter und Mütter. Eben immer, wer gerade Zeit hat. "Ewig geht das allerdings nicht. Eine Woche vielleicht noch und dann muss man weiter sehen", sagt Bianca Stachoske.

Improvisation tut Not

Auch die Kitaleitung muss improvisieren. Zehn Erzieher streiken, sieben sind krank oder im Urlaub. Besonders hart ist es für Kinder mit einer Behinderung, die einer intensiveren Betreuung bedürfen. Ihnen musste die Kita bereits telefonisch absagen. "Wir haben den Vorteil, dass wir eine große Kita sind", erzählt Annika Pohlman, die hier für die Frühförderung zuständig ist. "In kleineren Einrichtungen ist das gar nicht zu leisten. Wir sind da auf die Unterstützung der Eltern angewiesen."

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Linda Luft, Panorama 3.  Foto: Roman Rätzke

Linda Luft

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Auch Arbeitgeber betroffen

Doch nicht nur Eltern und Großeltern müssen einspringen, auch etlichen Arbeitgebern wird einiges abverlangt. Sie müssen damit umgehen, dass viele ihrer Mitarbeiter mit kleinen Kindern Urlaub eingereicht haben und nun nicht zur Arbeit erscheinen. Manche Firmen haben sich daher um ein Betreuungsangebot auf dem eigenen Betriebsgelände gekümmert, um ihre Mitarbeiter zu unterstützen. Arbeitgeber werden somit selbst zu Betroffenen und zu Leidtragenden des Streiks. Bei Otto stehen heute in der betriebseigenen Sporthalle ein Bällebad, eine Ritterburg, Bobbycars und jede Menge Spielzeug. Heike Linnecke ist zwar froh über die Notbetreuung für ihren Sohn, hegt aber starke Zweifel am Erfolg des Streiks: "Es trifft ja nicht die richtigen. Die Politik müsste sich doch bewegen, nicht die Eltern oder die Arbeitgeber." Beim Unternehmen sieht man das ähnlich, aber Druck auf die Politik sei nicht Sache eines Unternehmens, so ein Sprecher von Otto. Da halte man sich raus.

Trifft der Streik die Richtigen?

Arbeitskampf auf dem Rücken der Eltern
Mit Ritterburg und Bällebad findet bei Otto in der betriebseigenen Sporthalle eine Notbetreuung statt.

Angereiste Großeltern, Eltern unter Druck und Arbeitgeber in Mitleidenschaft. Treffen die Konsequenzen des Streiks wirklich die Richtigen? Die Kommunen tangiert der Streik nämlich bislang kaum. Einige können damit sogar Geld sparen. Einige Städte und Gemeinden werden von den Kita-Trägern den Lohn der Erzieherinnen und Erzieher für die Streiktage zurückfordern und verdienen so indirekt am Arbeitskampf. Im Gegenzug haben die Eltern keinen Rechtsanspruch auf die Rückzahlung ihrer Gebühren. Das erscheint es fragwürdig, ob tatsächlich der Arbeitskampf tatsächlich richtig gesteuert ist. Denn gerade jetzt ist auch die Politik gefordert, eine schnelle Lösung des Konflikts mit voranzutreiben.

Den Eltern bleibt nichts anders übrig als abzuwarten, ob und wann sich die Verhandlungsführer auf Bundesebene einigen werden. So lange müssen sie ihr Organisationstalent unter Beweis stellen und darauf hoffen, dass die kommunalen Kitaträger die Kitagebühren aus Kulanz zurück zahlen. Doch eine Rückzahlung könnte zum Beispiel in Hamburg nur einen Bruchteil der Kosten für einen Babysitter während der Streiktage decken. 

Dieses Thema im Programm:

Panorama 3 | 12.05.2015 | 21:15 Uhr

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