Ulrich Kühn © NDR Foto: Christian Spielmann

NachGedacht: Verkehrswende - Privatjets für alle!

Stand: 15.07.2022 00:00 Uhr

Manchmal starrt die Öffentlichkeit mit aller Kraft auf ein Ereignis. Und begreift das Entscheidende nicht. Wie bei der Lindner-Hochzeit. Ulrich Kühn weiß mehr.

von Ulrich Kühn

Ach, war das ein Spaß, ein holdes Fest der Mitmenschlichkeit: Wir haben geheiratet! Ja, wir waren dabei auf der Hochzeitsinsel, auf die der hübsche Minister geladen hatte, Vertreter einer Partei, die neoliberal ticken soll, wofür die Lindner-Pläne, Langzeitarbeitslosen die Leistungen zu kürzen, den letzten Beleg zu liefern schienen. Die Lindner-Hochzeit war aber nicht nur perfekt liberal, sie war auch im höchsten Maß sozial. Schon die Zahl der Gäste war vorbildlich. Und dann das Angebot in den Medien: Wer in den langen Tagen von Sylt kein Bild der Lindner-Hochzeit sah, hat wohl eisern diszipliniert mediengefastet.

Wir anderen waren reichlich versorgt, ohne dass Völlegefühl aufkam - so schlank das Paar, so federleicht, so luftig im Porsche bewegt. Dazu das Bekenntnis zweier Ausgetretener zum Ritual-Service der evangelischen Kirche - und der Apostel Peter höchstselbst, mit Nachnamen Sloterdijk, sann philosophisch nach über trautes Zu-Zweit-Sein. Selten, dass ein Finanzminister so durch und durch als Role Model für gehobenen Lifestyle taugt. Wir dürfen mit diesem Glücksfall leben. Ich wiederhole, gehobener Lifestyle - denn abgehoben hat Lindner nicht.

Lindners Hochzeit liefert Lösung des Mobilitätsproblems

Abgehoben hat ein anderer. Und damit sind wir beim Thema der kleinen Nachdenkerei. Denn es geht hier nicht um populistische Attacken im Geiste deutschen Sozialneids. Es geht darum, dass uns die Lindner-Vermählung ganz nebenbei die Lösung des deutschen Mobilitätsproblems beschert hat. Zur Genialität unserer in den Winkelzügen ihres Tuns nicht immer auf Anhieb durchschaubaren Regierung gehört es, dass sie die Lösung dieser wichtigen Frage dem Oppositionschef überließ.

Nur Kurzsichtige konnten Anstoß daran nehmen, dass Friedrich Merz, der Mann aus des Volkes Mitte, der als Jugendlicher Mobilitätskompetenz bewies, indem er, in legendenumwobenen Tagen, fliegenden Haars auf frisiertem Motorrad durchs heimatliche Brilon brauste - dass dieser nach eigener Auskunft später in die obere Mittelschicht hineingereifte schwarze Fels in der Weltwirtschaftsbrandung seine Weitsicht nicht nur dadurch manifestiert hat, sein sorgsam ausgewähltes, von seriösen Medien intensiv besprochenes Brillengestell gleich doppelt zu erwerben, sondern überdies dadurch, dass er mit dergestalt aufgerüstetem Adlerauge von oben herab auf Sylt einbrach. Okay, dieser Satz war lang. Ich kann es kürzer sagen: Fritz Merz kam im Privatjet. Und flog ihn selbst. Und wer sich darüber aufregt, begreift nicht, wie Öffentlichkeit funktioniert. Das Symbol ist die Botschaft, Freundinnen, Freunde, das Symbol! Aber anders, als ihr denkt. Wenn der Oppositionsführer im Privatjet kommt, muss man nicht fragen, ob er das richtige Zeichen setzt in einer Zeit, in der wir uns darauf einstellen, Geld, das viele nicht haben, für astronomische Gasrechnungen auszugeben. Vielmehr muss man ihn loben für seine Uneigennützigkeit. Wie das? Bitte, es ist ganz einfach.

Die Leute haben kein Brot? Sollen sie Kuchen essen - oder Privatjet fliegen!

Wir klagten kürzlich an dieser Stelle, dass bei der Deutschen Bahn und auch in der deutschen Fliegerei nix mehr funktioniert. Das war destruktiv, wir klagten, ohne die Lösung zu bieten. Der perfekt funktionierende japanische Shinkansen kommt ja als Vorbild für die Deutschen Bahn so wenig in Betracht wie die alte Lufthansa als Vorbild für die neue Lufthansa. Das deutsche Mobilitätsproblem, unlösbar bis zum Wochenende, kann nur auf eine Weise gelöst werden: Privatjets für alle! Darauf kam noch keiner. Bis Friedrich Merz geflogen kam. Frei nach dem Motto der Marie Antoinette: Die Leute haben kein Brot? Sollen sie Kuchen essen!

Wie bitte, das hat Marie Antoinette in Wahrheit nie gesagt? Stimmt schon. Aber es hat auch niemand behauptet, dass der Flug des Friedrich Merz die Deutsche Bahn zu Brot machen sollte. Und es ist absolut nicht wahr, dass die ZEIT das Richtige tat, als sie einem Text über die soziale Lindner-Hochzeit die Überschrift verpasste: "Das Fest des Fürsten". Herr Lindner ist kein Fürst. Er ist Vertreter des Volkes. Und als solcher hätte er, das ist hiermit bewiesen, jeden Privatjet verdient. Den er aber nicht besitzt. Er ist dafür zu bescheiden. Nur Neider verstehen das nicht.

Weitere Informationen
Ulrich Kühn, Claudia Christophersen und Alexander Solloch. © NDR Foto: Christian Spielmann

NachGedacht

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | NachGedacht | 15.07.2022 | 10:20 Uhr

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