NDR Kultur Literaturredakteur Alexander Solloch vor einer Backsteinwand. © NDR Foto: Manuel Gehrke

NachGedacht: Im Krakengriff der Angst

Stand: 21.04.2022 16:03 Uhr

Überall Kalamität, Katastrophe, Krieg, und immer noch mehr Waffen und immer noch mehr Abgründe. Alexander Solloch sucht Abwechslung im Hundertsechzig-Morgen-Wald.

von Alexander Solloch

Damals, beim Leipziger Uniradio, als wir - wegen ewiger Jugend usw. - noch so richtig was konnten, erfand mein Freund Dirk eine journalistische Technik, die wir fortan die "Krakenfrage" nannten. Es war gerade Flut in Sachsen, aber der Gesprächspartner, den wir uns fürs aktuelle Abendmagazin ausgesucht hatten, irgendein Koordinator von Rettungseinsätzen, ließ sich trotz der Dramatik der Situation nichts Tatsächliches entlocken.

Es waren gerade erst anderthalb Minuten Sendezeit verbraucht, aber Dirk hatte schon alle denkbaren Fragen gestellt. In der Not flocht er spontan ein dichtes Netz aus Eventualitäten, aus dem, hoffte er, auch dem wortkargen Fluthelfer kein Entrinnen möglich wäre: "Was aber", hob mein Freund zu fragen an, "wenn das Hochwasser weiter steigt und die Rettungsboote auf der Mulde dem nicht standhalten und vielleicht gar sinken und … und …".

Krakenfrage findet Eingang in die Gebrauchsanweisungen fürs Politikerdasein

"… und", so sinnierten wir nach der Sendung beim - wegen ewiger Jugend usw. damals noch verträglichen - dritten Bier weiter, "wenn dann eine Krake aus der Tiefe des Flusses auftaucht und sie nicht nur acht, sondern vielleicht zehn Tentakeln aufweist und sie womöglich gar keine übermäßig freundlichen Absichten hegt und wenn sie nicht nur allein, sondern im Rudel erscheint - was dann?" Kurz und gut, die Krakenfrage war erfunden. Seltsamerweise hat sie keinen Eingang in journalistische Lehrbücher gefunden, wohl aber in die aktuellen Gebrauchsanweisungen fürs Politikerdasein. Das hat Dirk nicht gewollt!

Inmitten all des menschenüblichen Elends hat sich diese Woche ja durchaus auch Erfreuliches ergeben: Jetzt ist auch an niedersächsischen Schulen endlich - spät zwar, aber immerhin - die Maskenpflicht gefallen. Da, wo Köpfe belüftet werden sollen, kann wieder frei durchgeatmet werden. Man könnte sich darüber freuen. Aber Karl Lauterbach, dem das Ministersein wirklich nicht bekommt, suhlt sich in Untergangsstimmung und der Eventualität einer "Killervariante" des Corona-Virus, die im Herbst auftauchen könnte. Sonst halt im nächsten Frühling. Oder später.

Freude an der Dramatisierung

Auch der Grünen-Politiker Anton Hofreiter, dem das Nicht-Ministersein wirklich nicht bekommt, nimmt uns in den Krakengriff der Angst. Wenn Deutschland sich zu sehr mit Waffenlieferungen an die Ukraine zurückhalte, sagt er, steige die Gefahr eines Dritten Weltkriegs. Mit ebenso viel Freude an der Überdramatisierung des Dramatischen könnte man freilich genau andersherum argumentieren: Mehr Waffen erhöhen die Gefahr usw.

Sicher, der Dritte Weltkrieg wird wohl irgendwann mal ausbrechen, denken alle Unken, sonst hätte man ja gar nicht erst zu zählen angefangen. Aber wann, warum und wodurch bricht er aus? Die weiseste Antwort auf diese wie überhaupt auf alle Fragen findet man beim großen Autor Klaus Bittermann: "Man weiß es nicht, wie so vieles, das man nicht weiß."

Handfeste Gründe zur Beunruhigung

Es gäbe ja noch ein paar andere handfeste Gründe zur Beunruhigung, solche auch, die gerade die grüne Partei interessieren könnten, wenn sie sich zur Abwechslung mal ein bisschen mehr für Umweltschutz und ein bisschen weniger für Waffenexporte begeistern wollte: Einer neuen Studie britischer Wissenschaftler zufolge haben der Klimawandel und die intensive Landwirtschaft die Zahl der Insekten weltweit radikal reduziert, stellenweise um die Hälfte. Wenn das so weitergeht, muss jedenfalls der Vierte Weltkrieg ausfallen, weil es dann keine Menschen mehr gibt, die ihn ausfechten könnten.

Wenn. Die Weltliteratur sagt dazu Folgendes: Eines Tages spazierten Pu der Bär und Ferkel durch den Hundertsechzig-Morgen-Wald. Es stürmte allerdings heftig, und das sowieso immer besorgte Ferkel fragte nervös: "Angenommen, ein Baum fällt um, wenn wir direkt darunter stehen?“ Darüber dachte Pu gründlich nach und sagte dann: "Angenommen, er fällt nicht um." Das beruhigte Ferkel zunächst. Aber dann sprang eine Krake aus dem Gebüsch und würgte ein bisschen an ihm herum, so dass Ferkel sich nicht anders mehr zu helfen wusste, als zum Killerschwein zu mutieren.

 

Weitere Informationen
Ulrich Kühn, Claudia Christophersen und Alexander Solloch. © NDR Foto: Christian Spielmann

NachGedacht

Unsere Kolumnisten lassen die Woche mit ihren Kulturthemen Revue passieren und erzählen, was sie aufgeregt hat. Persönlich, kritisch und gern auch mit ein wenig Bösartigkeit gespickt. mehr

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | NachGedacht | 22.04.2022 | 10:20 Uhr

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Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

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