Stand: 30.08.2019 13:49 Uhr

Rücksichtnahme oder falsch verstandene Toleranz?

Zu einem guten Zusammenleben gehört es, Rücksicht auf die Bedürfnisse anderer zu nehmen. Das würde vermutlich kaum jemand bestreiten. Doch was ist, wenn unterschiedliche Kulturen aufeinandertreffen und damit unterschiedliche, teils sich widersprechende Bedürfnisse? Zum Beispiel, wenn es um die Frage geht, ob Schweinefleisch auf den Speiseplan in Kitas gehört, wenn auch muslimische Kinder mitessen. Oder ob es gesonderte Frauentage in Freibädern geben sollte, weil muslimische Frauen sich dieses wünschen? Wo liegen die Grenzen der Rücksichtnahme?

Canan Topcu © Canan Topçu Foto: Christoph Boeckheler
Schweinefleisch aus Rücksicht auf Muslime ganz vom Speiseplan zu streichen ist falsch, sagt Canan Topçu.

Ein Kommentar von Canan Topçu

Neulich saßen meine Nachbarn mit Freunden im Garten und feierten. Dabei waren sie laut. Sehr, sehr laut. Dass sie auch weit nach Mitternacht die ganze Nachbarschaft beschallten, bereitete mir Unbehagen. Ich fühlte ich mich zunehmend unwohl, nicht nur wegen des Lärms, sondern wegen des Verhaltens meiner Nachbarn. Ich verspürte ein Gefühl von Fremdschämen.

Wieso verursachen Nachbarn, die das Ruhebedürfnis anderer ignorieren, solch ein starkes Gefühl in mir? Ich traue mich das fast gar nicht laut auszusprechen, weil ich befürchte, für meine Gründe kritisiert zu werden. Es ist nämlich so: Meine Nachbarn stammen - wie ich - aus der Türkei und sind Muslime. Meine Nachbarin trägt Kopftuch. Unangenehm ist mir das rücksichtslose Verhalten dieser Familie, weil ich mich aufgrund der gemeinsamen Herkunft mit ihr identifiziere. Das jedenfalls habe ich nach einem längeren Hineinhorchen in mich festgestellt.

Gedanken, die mich erschrecken

Gerade in Zeiten massiver Anfeindungen gegen Migranten im Allgemeinen und Muslime im Besonderen sollten wir Muslime rücksichtsvoller sein und keinen Anlass für Verstimmung und Anfeindungen geben; denn es gibt nun einmal zu viele Menschen in diesem Land, die das Fehlverhalten einzelner zum Anlass für einen Rundumschlag gegen ganze Bevölkerungsgruppen nutzen. Solche Gedanken gehen mir immer wieder durch den Kopf. Gedanken, die mich aber auch erschrecken.

Über die Autorin

Die Journalistin und Autorin Canan Topçu, 1965 in der Türkei geboren, lebt seit ihrem achten Lebensjahr in Deutschland. Nach ihrem Studium absolvierte sie ein Volontariat bei der "Hannoverschen Allgemeinen Zeitung". Danach war sie Redakteurin bei der "Frankfurter Rundschau". Sie arbeitet nun freiberuflich für Hörfunk, Print- und Online-Medien. Spezialisiert hat sie sich auf die Themen Integration, Migration, Islam und muslimisches Leben in Deutschland. Außerdem ist sie Dozentin - u.a. an der Hochschule Darmstadt.

Rücksicht aufeinander nehmen, andere nicht brüskieren und respektvoll miteinander umgehen: Das sollte eigentlich selbstverständlich sein; wir erleben aber immer wieder, dass es bei der Umsetzung ganz schön hapert. Weil die Regeln für Rücksicht und Toleranz - weder im individuellen Umgang noch im gesellschaftlichen Zusammenhang – nicht mehr klar festgelegt sind. Bei der Frage, ob man bis spät in die Nacht laut Musik hören sollte, ist man sich vermutlich schnell einig – und das hat überhaupt nichts damit zu tun, ob die Ruhestörer Muslime sind oder nicht. Aber was ist mit Forderungen nach islamkonformen Essen in Kantinen? Was mit der Befreiung muslimischer Mädchen vom Sportunterricht? Was für die einen als kultursensible Rücksichtnahme gilt, bewerten die anderen als Einknicken vor den Geboten einer Minderheit.

Wo beginnt das Aufgeben eigener Traditionen?

Wer darf aber in einer zunehmend pluralen Gesellschaft die Grenzen ziehen zwischen kultursensibel und nicht tolerabel? Wer die Deutungshoheit darüber haben, was als religiös begründete Gebote zu tolerieren ist? Wo endet respektvolles Entgegenkommen und wo beginnt das Aufgeben eigener Traditionen?

Um es an einem Beispiel zu konkretisieren: Dass zwei Kindergärten in Leipzig Schweinefleisch vom Speiseplan streichen wollten, sorgte kürzlich republikweit für eine heftige Debatte. Die einen konnten die Aufregung nicht verstehen, weil es sich doch um eine kultursensible Entscheidung handle, die anderen wiederum waren empört, weil sie der Ansicht sind, dass es in diesem Land zu weit gehe mit der Rücksicht auf Muslime.

Canan Topcu © Canan Topçu Foto: Christoph Boeckheler
AUDIO: Die Sendung zum Nachhören (5 Min)

Zu viel Entgegenkommen führt nicht zum Frieden

Ich halte nichts von solch einer vermeintlichen Rücksichtnahme. Es ist eine Sache, das Speiseangebot zu erweitern, damit auch muslimische Kinder ihrem Glauben gemäß essen können. Das sollte selbstverständlich sein. Es geht aber zu weit, allen anderen Kindern Schweinefleisch zu verbieten. Warum sollte man auf ihre Wünsche weniger Rücksicht nehmen?

Ich bin der Ansicht, dass zu viel gut gemeintes Entgegenkommen seitens der Mehrheitsgesellschaft nicht zum erhofften Frieden führt. Während es die eine Gruppe zufriedenstellt, sorgt es in Teilen der anderen Gruppe für Unmut und Feindschaft. Um in einer multireligiösen Gesellschaft zusammenleben zu können, kann niemand darauf pochen, dass alles nur nach seiner Vorstellung geht. Man muss Abstriche machen und Kompromisse eingehen. Das gilt für alle: für Nicht-Muslime genauso wie für Muslime.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Freitagsforum | 30.08.2019 | 15:20 Uhr

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Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

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