Die unscharfe Grenze zwischen Meinung und Rassismus

Ein Kommentar von Canan Topçu
Journalistinnen und Journalisten werden zunehmend zur Zielscheibe. In Deutschland gehören tätliche Angriffe zwar nicht zum Alltag, aber auch hier geschehen sie häufiger. Hetze gegen Medienschaffende nimmt in ganz Europa zu. Journalistinnen und Journalisten wie ich - solche aus Einwandererfamilien - sind besonders von Hatespeech betroffen, also von Hass und Verachtung. Einige meiner Kolleginnen und Kollegen wollten "all den Scheiß nicht für sich behalten" und entwickelten ein Unterhaltungsformat. Es heißt "Hate Poetry". Damit touren sie durch die Republik und lesen aus Briefen, die sie von Leuten erhalten, die meinen, dass es "Meinungsfreiheit" ist, Menschen herabzuwürdigen.
Mehr als eine Beleidigung
Wie wichtig das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Pressefreiheit ist, muss ich hier gewiss nicht erklären - und auch niemanden davon überzeugen. Auf einen Mangel will ich aber näher eingehen - und zwar in Bezug auf die unscharfe Grenze zwischen Meinung und Rassismus. Ein Beispiel: Stellen Sie sich vor, jemand sagt zu Ihnen: "Du blöde Kuh!" Was denken Sie? Ist diese Äußerung durch die Meinungsfreiheit gedeckt?
Nein, ist sie nicht. Es handelt sich um eine Beleidigung. Und gegen Beleidigung kann juristisch vorgegangen werden.
Ein zweites Beispiel: Stellen Sie sich vor, jemand sagt zu Ihnen: "Solche Viecher wie Dich dürfte es hier gar nicht geben!" Ist das auch über die Meinungsfreiheit gedeckt? Ich meine: Nein! Deswegen zeigte ich einen Mann an, der es sich als vermeintlich "echter Deutscher" erlaubte, mir die Daseinsberechtigung in diesem Land abzusprechen. Denn meinem Empfinden nach enthält dieser Satz, den er zu mir sagte, weitaus mehr als eine Beleidigung. Es ist Rassismus und verursacht die Angst, dass es nicht nur bei Verbalattacken bleibt.
Zweifel an der Rechtsgrundlage
Laut Gesetz handelt es sich dabei aber - wie auch bei "Du dumme Kuh" - lediglich um Beleidigung. Ermittelt wird wegen Ehrverletzung. Meine Zweifel an der Rechtsgrundlage stießen bei der Staatsanwaltschaft auf Unverständnis. "Ich kann nur die Paragraphen anwenden, die es gibt. Manche Gesetze sind halt veraltet", erklärte mir am Telefon auf Nachfrage die zuständige Dezernentin.
Wenn rassistische Äußerungen nur als Beleidigung abgehandelt werden oder gar durch das Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt sind, dann brauchen wir uns nicht darüber zu wundern, dass die Grenzen des Sagbaren immer mehr ausgeweitet werden.
