Die Frage nach einem europäischen Islam
In diesen Tagen findet in den 28 Mitgliedstaaten der EU die Europawahl statt. Am Sonntag wird in Deutschland gewählt. Rund 400 Millionen Menschen sind europaweit zur Stimmabgabe aufgerufen. Unter ihnen auch zahlreiche Musliminnen und Muslime. Auch sie fühlen sich europäisch, sagt unsere Gastautorin, die Journalistin Canan Topçu, in ihrem Kommentar.
Ein Kommentar von Canan Topçu
Gibt es denn kein anderes Thema, um das man sich derzeit kümmern kann, dachte ich gestern nach der Lektüre eines Artikels. Darin fordern Bundesgesundheitsminister Jens Spahn und der schleswig-holsteinische Ministerpräsidenten Daniel Günther "die Entwicklung eines europäischen Islams". Eigentlich geht es in dem Beitrag um die Vorzüge der Europäischen Union. Diese müssten für die Menschen in den Mitgliedsländern im Alltag erfahrbar werden, schreiben die beiden CDU-Politiker. Das verstehe ich.
Zwei Dinge aber verstehe ich nicht: Zum einen, warum sich ein Bundesgesundheitsminister nicht auf die Themen konzentriert, die sein Ressort betreffen. Zum anderen, warum es überhaupt einen Exkurs zum Islam und zu einer "reaktionär-frauenfeindlichen Strömung" bedarf, die nicht mit den europäischen Werten kompatibel sei. Natürlich weiß ich, dass nicht alle Muslime super sind und sich alle vorbildlich verhalten. Ich weiß aber auch, dass die Ursachen der Defizite nicht allein der religiösen Überzeugung zuzuschreiben sind, sondern die Probleme viel komplexer sind.
Der Kompass unseres Verhaltens sind ethische Werte
Deshalb ärgern mich Debatten, die Musliminnen und Muslime pauschal den europäischen Werten gegenüberstellen. Und zwar, weil ich um die Folgen negativer Hervorhebungen weiß und sie auch ganz persönlich zu spüren bekomme. Je stärker sich der öffentliche Diskurs auf Negatives fokussiert, desto weniger differenzieren viele Menschen; sie werfen schlimmstenfalls die Werte der Verfassung wie die Religionsfreiheit über Bord und treffen pauschale Urteile, wonach Muslime eine extreme Form von Religion praktizieren. Es gibt diese radikalen Minderheiten, keine Frage. Aber je mehr in der Öffentlichkeit der Fokus auf eben diese Minderheit gelegt wird, desto mehr sorgt das für Unmut bei all den Muslimen, für die ihre Religion nur einer ihrer Identitätsmarker ist. So ist es auch bei mir.
Unsere religiösen Traditionen und Rituale praktizieren wir eigentlich weitaus unspektakulärer als gemeinhin angenommen wird. Vorranging sind wir Bürgerinnen und Bürger dieses Landes, halten uns selbstverständlich an Gesetze und auch an die ungeschriebenen Regeln des sozialen Miteinanders. Der Kompass unseres Verhaltens und Handelns sind ethische Werte. Wir sind in dieser Hinsicht nichts Besonderes.
Erst durch Stigmatisierung definieren sich viele stark als Muslime
Allgeimein lässt sich festhalten, dass erst eine permanente Stigmatisierung oft dazu führt, dass wir uns viel intensiver mit unserer Religion beschäftigen und uns in einer Art Abwehrreflex auf die massive Kritik vorrangig als Muslime definieren. Viele wollen das zunächt gar nicht. Ich stelle das immer mehr auch an mir fest. Es verletzt mich, wenn ich höre und lese, dass Muslime sich nicht an dieses und jenes halten und ihnen demokratische Werte vermittelt werden müssten.
Um bei mir zu bleiben: Vorranging bin ich Bürgerin dieses Landes und eine überzeugte Europäerin. Mir und all den Muslimen, die in Europa beheimatet sind, muss man keine Nachhilfe geben über die Vorzüge und Ideen der Europäischen Union. Gerade wir Nachkommen von eingewanderten Muslimen erleben die Vorteile. Wir können in einem anderen EU-Land studieren oder arbeiten, und auch im Alltag erleben wir es. So etwa beim Telefonieren mit Verwandten im Ausland, das früher mit immensen Kosten verbunden war. Und wer, wie ich, vor dem Schengen-Abkommen mehrmals an den Grenzen europäischer Nachbarländer eine spontan angetretene Urlaubsreise abbrechen und umkehren musste, weil die Grenzbeamten mich ohne Visum nicht weiterfahren ließen, weiß Freizügigkeit sehr zu schätzen.
Intensive Diskussion über zeitgemäße Auslegung des Korans
Auch wir Muslime pflegen Beziehungen auf privater Ebene innerhalb der EU und wir pflegen auch einen intensiven Austausch auf akademischer Ebene. Islamische Theologen und Wissenschaftler, die an europäischen Universitäten tätig sind, treffen sich beispielsweise auf Konferenzen, tauschen sich aus und forschen gemeinsam - zu theologischen, aber auch zu alltagspraktischen Fragen, die europäische Muslime betreffen. Es findet unter Theologen und Wissenschaftlern eine zunehmend intensive Diskussion darüber statt, wie der Koran zeitgemäß ausgelegt kann.
Wer Werte vermitteln will, sollte für diese so einstehen, dass auch die Wirkung von Worten mitbedacht wird. Denn wer zu schnell einen vermeintlichen Gegensatz zwischen Europa und Islam aufmacht, verkennt, wie europäisch Musliminnen und Muslime ihre Religion bereits leben.