Gerhard Steidl: "In Göttingen entstehen zur documenta 30 Bücher"
Am 18. Juni eröffnet die weltgrößte Schau für zeitgenössische Kunst documenta. Parallel dazu wird Göttingen Schauplatz der documenta-Kunst sein. Wie das aussieht, erklärt Verleger Gerhard Steidl im Gespräch.
Sieben Künstlerinnen und Künstler werden im Göttinger Kunsthaus 100 Tage lang auf Papier arbeiten. Ab dem Tag der Eröffnung werden sie anfangen, die Wände mit Fotos, Zeichnungen, Karikaturen, Texten und Gedichten zu füllen, dabei sollen ungefähr 30 Bücher entstehen. Zudem wird im Rahmen der documenta Die Rauminstallation "Poet Singing (The Flowering Sheets)" im Kunsthaus zu sehen sein, die vom Pop-Art-Künstler Jim Dine stammt, der diese Woche in Göttingen seinen 87. Geburtstag feiert.
Gerhard Steidl: "Die documenta bietet eine Entdeckungsreise"
Hundert Tage lang läuft ab dem 18. Juni die documenta in Kassel, die nur alle fünf Jahre stattfindet. Das gerade eben erst eröffnete Kunsthaus Göttingen zeigt in diesem Rahmen das Projekt "printing futures". Papier soll dabei als künstlerisches Medium in den Mittelpunkt gestellt werden.
Für den leidenschaftlichen Verleger und Gründungsdirektor des Kunsthauses Göttingen, Gerhard Steidl, ist mit diesem Projekt auch ein - wie er sagt - "Traum" in Erfüllung gegangen. Er spricht über das neue Kunsthaus, über "printing futures", über Kunst, Papier und immer wieder über Bücher.
Sie haben sich einen lang gehegten Traum erfüllt. Denn es gibt seit kurzem ein Kunsthaus in Göttingen und Sie sind der Gründungsdirektor. Es ist aber kein herkömmliches Museum. Was ist das für ein Haus?
Gerhard Steidl: Es ist ein Haus für zeitgenössische Kunst. Da werden Ideen realisiert, Materialien antransportiert, wie zum Beispiel Kunstgegenstände, Bilder und Ähnliches werden dann an die Wand gehängt. Die Idee zu dem Kunsthaus entstand bereits 1970, da bin ich zu dem Kulturdezernenten unserer Stadt gegangen und habe ihm gesagt, man müsste in der Innenstadt von Göttingen ein Ausstellungs- und Veranstaltungshaus für zeitgenössische Kunst, Musik, Theater und für Lesungen haben. Da sagte er mir, dass er das nicht durchkriegen würde. Denn in der Stadt sollen nur Kaufhäuser und Geschäfte sein, das bringe Gewerbesteuereinnahmen und Kunst könne am Rande der Stadt passieren, zum Beispiel in der Industriehalle. Ich bestand aber darauf.
In den vielen Jahren gab es wechselnde Mehrheiten und wechselnde Parteikonstellationen im Rathaus. Erst vor ungefähr 15 Jahren gab es dann Mehrheiten, die gesagt haben, 'wir wollen das jetzt doch realisieren'. Ich hatte ein unbebautes Grundstück im Herzen der Stadt und das habe ich zur Verfügung gestellt - darauf entstand das Kunsthaus Göttingen. Der Untertitel ist übrigens 'Arbeiten auf Papier, Fotografie, Zeichnungen, Druckgrafik, Radierungen, Lithografien, Siebdruck, Plakate und natürlich Bücher'. Also all das, was mir durch die Finger und durch den Kopf geht, gehört auch an die Wände des Kunsthauses.
Das Kunsthaus Göttingen hat eine besondere Fassade. Was ist das für eine?
Steidl: Die hat sich per Zufall ergeben. Es sollte eine Ziegelfassade werden, aber die Ziegel, die uns angeliefert wurden, taugten nichts - die Farbe passte nicht. Mir schwebte vor, dass es irgendetwas Papierfarbenes ist, nicht ziegelrot und auch nicht grün gestrichen, es sollte eine Erdfarbe sein. Ein sehr guter Malerbetrieb aus Leipzig hatte dann eine gute Idee, sie wollten einen Putz in einem papp-ähnlichen Farbton aufbringen. Und die feuchte Putz-Masse sollte eine Struktur bekommen. Ich habe mir dann meine Papier-Paletten angesehen und gemerkt, wenn die Buchrücken übereinander liegen, dann bilden sie so eine waagerechte Struktur aus Linien - die haben wir in die Fassade gerakelt. Jetzt sieht es so aus, als hätte man einen riesengroßen Buchblock vor sich liegen.
2022 ist ein Kunstjahr, die Kunstbiennale von Venedig und in ein paar Tagen fängt die documenta in Kassel an - und das Kunsthaus Göttingen ist mit dem Projekt 'printing futures' dabei. Was hat es damit auf sich?
Steidl: Ich habe mir vor ungefähr zwei Jahren das Konzept der diesjährigen documenta angesehen, das von der indonesischen Kuratorengruppe ruangrupa aufgesetzt wurde. Das hat mich fasziniert. Da ging es nämlich nicht darum, dass man sogenannte Großkünstler und Großgalerien einlädt, die dort die zeitgenössische Kunst oder die Kunst in der nahen Zukunft präsentieren - um dann anschließend ein großes Geschäft daraus zu machen - sondern sie hatten gesagt, 'wir werden für die nächste documenta Künstler aus aller Welt einladen, und wir arbeiten als ein großes Kollektiv zusammen'.
Ein Großteil der Kunst wird nicht importiert und nach Kassel gebracht, sondern entsteht in Kassel unter Beisein des Publikums. Wir stellen uns vor, dass wir unser Konzept nicht nur in Kassel realisieren, sondern, dass wir Satelliten bilden. Wir gehen in andere Städte, in andere Länder und realisieren dort ebenfalls das documenta-Konzept.
Da habe ich mich für das Kunsthaus Göttingen beworben, ein solcher Satellit zu sein. Unter dem Titel 'printing futures - art for tomorrow' haben wir sieben Künstler und Künstlergruppen eingeladen, die tatsächlich in unserem Haus auf Papier arbeiten und am Tag der Eröffnung anfangen, die Wände mit Fotos, Zeichnungen, vielleicht Karikaturen, Texten und Gedichten zu füllen. Am Ende der 100 Tage entstehen dann ungefähr 30 Bücher, die wir in diesem Zeitraum mit den Künstlern aus Kassel und Göttingen realisieren. Aber es entsteht eben auch eine spannende Ausstellung, die dazu einlädt, kopiert zu werden. Wir hoffen, dass wir viele weitere Satelliten in Europa und auf der Welt bilden können.
Steidl: "Pop-Art Künstler Jim Dine feiert seinen 87. Geburtstag in Göttingen"
Der Ehrengast der documenta ist Jim Dine.
Steidl: Ja, er ist bestimmt der Bekannteste, weil er einer der Mitbegründer der Pop-Art ist und ich bin mit ihm seit langen Jahren verbunden. Wir haben viele Bücher, Ausstellungen und sehr viel Druckgrafik zusammen gemacht. Er feiert übrigens in diesen Tagen seinen 87. Geburtstag in Göttingen (am 16. Juni, Anm. d. Redaktion), also wir hängen seine Arbeiten auf und zelebrieren dann sein hohes Alter - er ist immer noch topfit und voller Tatendrang.
Die anderen Künstler sind nicht so bekannt, aber das ist auch das Konzept. Es ist eine Entdeckungsreise - etwas Neues. Wir sehen zum Beispiel Fotos von Shahidul Alam aus Bangladesch, der die Situation der Rohingya, aber auch die Situation von politischen Gefangenen dokumentiert hat. Eine andere Arbeit beschäftigt sich fotografisch mit Kinderarbeit in Pakistan, dahinter steckt eine Künstlerin aus Delhi, sie heißt Dayanita Singh. Sie hat einen Buchmarkt für Indien entwickelt und stellt das Konzept in Göttingen vor. Es sind alles Leute, die mit Papier arbeiten und Papier als Vermittlungstechnik nutzen.
Das Gespräch führte Claudia Christophersen