"Bilderschlachten" von Stephanie Thiersch © Sandy Korzekwa

Kunstfestspiele Herrenhausen auf der Suche nach der Gemeinschaft

Stand: 21.05.2022 20:00 Uhr

Bis zum 29. Mai wird bei den Kunstfestspielen Herrenhausen getanzt, performt, installiert und experimentiert. Ein Gespräch mit dem Chefdramaturgen Rainer Hofmann.

Während viele Kulturinstitutionen im Norden gerade mit Besuchermangel zu kämpfen haben, haben sich die Kunstfestspiele Herrenhausen das Thema Begegnung auf die Fahnen geschrieben. Das schlägt sich auch im künstlerischen Programm nieder.

Wie sind denn die Kunstfestspiele Herrenhausen aus Ihrer Perspektive gestartet?

Rainer Hofmann im Porträt © Anna van Kooij
Der Dramaturg Rainer Hofmann hat bislang an verschiedenen Bühnen gearbeitet - von Köln über Zürich, bis zu den Salzburger Festspielen und zuletzt beim Spring Performing Festival. Seit diesem Jahr ist Rainer Hofmann der neue Dramaturg der KunstFestSpiele Herrenhausen.

Rainer Hofmann: Die Stimmung ist super. Uns hat auch das schöne Wetter in den letzten Tagen geholfen im Festivalzelt am Eingang zu den Herrenhäuser Gärten. Mit dem Besuch waren wir sehr zufrieden, das ist ein bisschen unterschiedlich von Produktion zu Produktion. Woran das jeweils liegt, weiß ich nicht, aber insgesamt sind wir zufrieden. Gerade in dieser Situation: In der man nicht weiß, ist es Post-Pandemie oder nicht, dazu kommen die Inflation und der Krieg. Dabei glaube ich, dass Kunst gerade jetzt nötig ist.

Gemeinschaft, Heimat, Verbindung ist ja ein Themenfeld Ihres Festivals. Ist das eine unmittelbare Folge der Corona-Pandemie? Oder wollten Sie das als Thema immer schon einmal machen?

Hofmann: Es ist ja immer auf eine Art aktuell - und vor allem müssen die Künstler*innen ja etwas dazu machen. Die Themen müssen virulent sein, sonst gibt es ja keine Arbeiten dazu. Ich kann mir am Schreibtisch viel ausdenken, wenn es die Werke dazu nicht gibt, dann bleibt es auf Papier. Und ich glaube, das Thema Gemeinschaft ist gerade jetzt groß - nach zwei Jahren "Viel-auf-dem-Sofa-sitzen" und sich jedes Mal überlegen, wen will ich jetzt wirklich treffen? Wie viele Menschen traue ich mich, wirklich zu treffen? Da ist jetzt schon ein großes Thema, das künstlerisch bearbeitet werden kann. Allein durch die Form, dass wir jetzt wieder zusammenkommen ist das schon sehr stark da.

Wie schlägt sich das künstlerisch nieder?

Hofmann: Ich würde gerne kurz auf ein Stück eingehen: "The Dancing Public" von der Choreografin Mette Ingvartsen. Sie hat bereits eine ganze Zeit vor Corona begonnen, über Tanz in Post-Pest-Zeiten zu forschen - oder in Zeiten großer Not wie Armut, Überschwemmungen und Kriege. Ihre Forschung geht bis ins 13. Jahrhundert zurück. Es ist historisch verbürgt, dass es da Tanz-Manien gab. Sozusagen kathartische Akte am Ende Zeiten großer Not. Das wurde teilweise auch als Bedrohung wahrgenommen, weil man sich das auch nicht erklären konnte. Man vermutete, dass auch etwas Infektiöses dahinter stecke. Dass es gleichzeitig ein Zeichen der Infektion sei aber auch eine Befreiung davon. Also wirklich sozusagen ein Freitanzen und Freischwitzen dabei. Dann wurde die Arbeit an dieser Produktion von Corona überrascht und hinausgezögert. Und gerade deshalb scheint sie mir im Moment auch wichtig zu sein, weil sie das Publikum auch einlädt, mitzutanzen. Man muss das nicht mittanzen, aber man darf das. Die Performerin tanzt auf und zwischen drei Plattformen in den Herrenhäuser Gärten und bietet zu allem auch textlich einen Abriss über Tanz-Manien. Das Publikum kann sich dazu verhalten, aber auch permanent verhandeln, wie nah es der Performerin kommen will oder nicht.

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Was macht das Thema Gemeinschaft denn im Moment mit Ihnen persönlich?

Hofmann: Ich bin persönlich doch ungeheuer erleichtert, dass Vieles wieder geht. Nach zwei Jahren, in denen wir überlegen mussten: Wie viele Leute können wir denn nun reinlassen? Sind es 30 oder 50 Prozent? Wollen Menschen das überhaupt? Ich selbst war auch sehr vorsichtig: Meine Kuratorentätigkeit hängt viel mit Reisen und Recherchen zusammen. Das lässt sich nur bedingt online machen. Ich habe da zwei Jahre auf dem Bremspedal gestanden. Und jetzt sehr langsam begonnen, da wieder aktiver zu werden. Es ist schon eine große Erleichterung jetzt, vor allem, dass das Publikum kommen kann. Denn sonst macht das Ganze ja keinen Sinn.

Die anderen beiden Stichworte sind Heimat und Verbindung. Was hat es damit auf sich?

Hofmann: Es ist insgesamt ein großes Thema, was sehr viel Dringlichkeit hat: Uns das über die Flüchtlingskrise, Syrien und jetzt über die Lage in der Ukraine noch einmal eine unerwartete Dringlichkeit bekommen hat. Aber es geht grundsätzlich auch um die Frage: Welche Gemeinschaften gibt es in einer sehr fragmentierten oder sehr diversifizierten Gesellschaft? Also wen erreichen wir überhaupt noch? Wer spricht eigentlich noch mit wem? Da kann man dann über die Blase oder Bubbles sprechen: Wie entstehen überhaupt Gemeinschaften? Da war für mich ein paradigmatisches Stück "ANΩNYMO" der griechischen Choreografin Tzeni Argyriou - das am letzten Wochenende lief. Sie hat viel mit neuen Medien gearbeitet und das jetzt hinter sich gelassen. Jetzt hat sie nach griechischem Volkstanz geforscht und die Frage gestellt: Wie sind eigentlich vor Social Media Gemeinschaften entstanden? Und das Stück heißt "ANΩNYMO", weil Volkstanz eben keinen Autor hat, sondern über Überlieferungen entsteht.

Tanzende Frauen in schwarzer Kleidung - in "ANΩNYMO" von Tzeni Argyriou. © Lila Sotiriou
"ANΩNYMO" von Tzeni Argyriou ist ein Stück auf der Suche nach Gemeinschaften und nach direkter Berührung.

Das ganze Stück war für mich wie so ein Erinnerungsvorgang. Wie sind wir eigentlich zusammengekommen und wie könnten wir zusammenkommen? Was können wir aus der Vergangenheit lernen, ohne dabei nostalgisch zu werden? Das Stück beginnt mit sehr hektischen Bewegungen, die einen ans Swipen oder Selfie machen erinnern und wird dann sehr zart. Wie ein kollektives Sich-Erinnern: Wie könnte es denn anders gehen? Wie kommen wir vielleicht von den Bildschirmen weg und wie können wir uns wirklich treffen? Wir haben dann auch ein großes Dinner mit 100 Gästen veranstaltet - also eigentlich den Dorfplatz, wo man dann danach zusammen isst, aufgebaut. Dieses kollektive Erinnern - das fand ich ganz toll. Und dann gab es einen dieser magischen Momente im Theater, in dem ich das Gefühl hatte, hier kommen das was auf der Bühne ist und die Leute, die im Zuschauerraum sind, echt zusammen. Das war eine der besten Vorstellungen dieser Produktion, die die Kompanie je hatte.

Was hat Sie nach zwei Jahren Pandemie bei der Auswahl der Stücke besonders bewegt?

Hofmann: Für mich kommt immer sehr viel aus den Vorstellungen und Konzerten heraus. Ich mache das auch ungerne am Schreibtisch so nach dem Motto, jetzt suche ich mal zehn oder fünfzehn Sachen zu dem und dem Thema. Sondern eigentlich eher aus der Beobachtung heraus, woran wird gearbeitet? Was ist gerade in der Produktion? Was entsteht gerade? Das ist für mich sehr viel maßgeblicher dann. Wir gingen aus vom Konzert "rwh 1-4" von Mark Andre und Ingo Metzmacher. "Rwh" heißt Atem/Seele/Wind - das kommt aus dem Aramäischen. Darüber bin ich eigentlich darauf gekommen, über den Gedanken des Aufatmens nachzudenken - natürlich in der Hoffnung post-pandemisch aufzuatmen.

Mark Andre und Ingo Metzmacher © Helge Krückeberg
Das aramäische Wort "rwḥ" steht in der Bibel für den ‚Heiligen Geist‘. Mark Andre und Ingo Metzmacher machen diesen ‚heiligen‘ Atem in ihrem vierteiligen Zyklus konkret und existenziell erfahrbar.

Dann kam Omikron, dann der Krieg. Dann hat man sich gefragt, inwieweit kann man jetzt überhaupt aufatmen? Aber dieser Moment der Erleichterung interessierte mich sehr. Und den gibt es auf sehr viele verschiedene Art und Weisen im Programm. Da fragt man sich natürlich nach dem 24. Februar wie verhält sich das jetzt alles zu dieser politischen Realität jetzt? Weil viele Menschen ja gerade überhaupt nicht aufatmen können. Ich hatte kürzlich ein Gespräch mit zwei libanesischen Künstlerinnen. Die haben mir gesagt: "Guck mal, Rainer. Wir haben jahrelang im Libanon im Bürgerkrieg gelebt und immer Kunst gemacht. Es nützt keinem was, wenn ihr jetzt sagt, jetzt können wir nicht, weil irgendwo ein Krieg ist. Man muss es weitermachen." Das finde ich auch wichtig, dass man sich da nicht einschüchtern lässt.

Wie viel Aktualität können Sie denn eigentlich möglich machen? Die meisten Künstlerinnen und Künstler muss man ja sicherlich lange im Voraus anfragen.

Hofmann: Mir geht es auch gar nicht um die Tagesaktualität dabei. So ein Stück wie "The Lingering Now", das von Geflüchteten gespielt wird, ist jetzt noch mal aktueller - aber die Frage der Heimat, die dahinter steht, die ist längerfristig aktuell. Das Tagesaktuelle ist glaube ich nicht unser Geschäft. Ich glaube, dass Künstlerinnen und Künstler die Kraft haben, die längerfristigen gesellschaftlichen Entwicklungen im Auge zu haben und darüber Werke zu machen, die hoffentlich nicht nach einem halben Jahr wieder verblassen. Mich interessieren die größeren, längerfristigen Themen. Ein ganz schnelles Reagieren, das kann man machen. Dann kann es aber etwas kurzatmig werden.

Was hoffen Sie denn, nehmen die Besucherinnen und Besucher des Festivals in diesem Jahr mit?

Hofmann: Grundsätzlich wünsche ich mir, nicht nur bei uns, sondern auch bei anderen Vorstellungen und Konzerten, dass alle wieder Lust kriegen, hinzugehen. Dass man nicht auf die Live-Kunst verzichten will. Jetzt sind wir eine Zeit lang ohne ausgekommen und haben es uns auf dem Sofa bequem gemacht, da kann man ja auch tolle Dinge beim Streamen sehen. Aber ich hoffe, dass wir die Lust wecken können, dass wir hier live wieder zusammenkommen. Da gibt es dann ja auch Gespräche hinterher unter den Zuschauern, auch unter Leuten, die sich vorher nicht kannten und das ist ja auch wichtig, diese Gesprächskultur zu fördern.

Worauf freuen Sie sich denn jetzt noch am meisten?

Hofmann: Zwei Dinge, die ich auf keinen Fall verpassen wollte, ist "Pierrot lunaire" der kapverdischen Choreographin Marlene Monteiro Freitas auch mit Ingo Metzmacher als Dirigent. Das ist eine ganz neue Form des Musiktheaters, wo das Orchester und der Dirigent inszeniert sind und die Spieler sind. Und das zweite ist "Bilderschlachten" von Stephanie Thiersch und der Company Mouvoir - da ist der Titel sehr wörtlich zu nehmen: Das ist das Überwältigendste, was wir über Jahre gesehen haben: mit einem Live-Orchester, mit einem Tanz-Ensemble und einem Streichquartett. Das ist eigentlich der größte Beweis, wie Performance-Kunst, Tanz und Musik live zusammenkommen können. Es ist eine Bilderflut und geht gleichzeitig der Frage über die Bilderfluten, denen wir uns aussetzen, nach.

Das Gespräch führte Anina Pommerenke.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Klassisch in den Tag | 12.05.2022 | 07:30 Uhr

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