Ausstellungsraum mit Bildern © dpa Bildfunk Foto: Christian Charisius/dpa

"The New Abnormal": Ausstellung zeigt Leben im Ukraine-Krieg

Stand: 12.09.2022 11:52 Uhr

Seit mehr als sechs Monaten leben die Menschen in der Ukraine mit der Angst des Krieges. Kann es dort einen normalen Alltag geben? Die Ausstellung "The New Abnormal" in den Hamburger Deichtorhallen zeigt, wie sich das Leben dort verändert hat.

von Gesa Berg

Keine der Fotografinnen und Fotografen der Ausstellung "The New Abnormal" ist vorher Kriegsreporter gewesen. Doch sie sind dazu geworden. Daniil Russov ist 25 Jahre alt. In den vergangenen Monaten reiste er durchs die Ukraine. Die Menschen haben ihm berichtet, welches Leid ihnen widerfahren ist. Eines seiner Bilder zeigt die Leichen von zurückgelassenen russischen Soldaten in blühenden Wiesen in der Nähe von Kiew. "Das ist die logische Konsequenz von Krieg", sagt Daniil Russov. "Für mich ist dieses Bild sehr wichtig, denn es zeigt, was passieren kann, wenn man beschließt in ein fremdes Land einzumarschieren und nach seinen imperialistischen, verrückten Ideen und Vorurteilen einfach nur tötet und vergewaltigt."

Der Fotograf ist traumatisiert, hat das Erlebte noch lange nicht verarbeitet. "Wenn ich mich an all die Dinge erinnern würde, die mir die Leute erzählt haben, dann wäre das unerträglich. Natürlich versuche ich, einiges zu verdrängen und es wie in einen Schrank wegzusperren, um auch Gutes in Erinnerung zu behalten", sagt Daniil Russov. Die Fotografie sei für ihn eine Art Therapie, die ihm helfe das Trauma zu bewältigen. "Das ist meine Form, diese Erfahrungen und krassen Ereignisse festzuhalten. Die Fotografie ist für mich wie eine Erinnerungsbox."

Abgesagtes ukrainisches Fotofestival mit Bildern in Hamburg

Eine als Schlafwagen eingerichtete Ubahn. © Oksana Parafeniuk
Pavlo Dorohoi, aus der Serie "Traces of Presence" (2022).

Die Ausstellung in den Deichtorhallen ist eine Kooperation mit den Odesa Photo Days, ein internationales Fotofestival, das in diesem Jahr natürlich abgesagt wurde. Umso mehr freut sich Kuratorin Kateryna Radchenko, dass die Deichtorhallen einige der Bilder jetzt präsentieren. Sie zeigt auf ein Bild: "Das ist die Arbeit des Fotografen Pavlo Dorohoi aus Charkiw. Interessant ist, dass er vor dem Krieg Hochzeitsfotograf war. Als die Ukraine angegriffen wurde, entschied er in seiner Stadt zu bleiben. Für ihn ist es wichtig zu dokumentieren, wie seine Stadt zerstört wird und wie sie sich in dieser Zeit verändert hat."

Die U-Bahn in Charkiw gibt Schutz vor Luftangriffen. Tausende Menschen, ganze Familien sind vorübergehend in Wagons gezogen, bemüht um ein wenig Normalität. Seine Fotografien versuchen, das Unfassbare zu greifen. Mit Details: Notizen an der Tür eines Bombenkellers. Mehr als 300 Menschen hockten hier. Einen Monat lang, unter furchtbaren Umständen. Kuratorin Kateryna Radchenko erklärt: "Wir können hier sehen, dass sie Tag für Tag hofften, von den ukrainischen Soldaten endlich befreit zu werden. Auf diesem Foto, in der Ecke, gibt es ein Detail. Wir können die Zeichnungen der Kinder sehen und sie sagen 'Nein' zum Krieg, diese hellen, positiven und naiven Bilder."

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Ein Notenblatt zum Herz gerollt © Fotolia Foto: alexkich

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Fotos für ein kollektives Gedächtnis

Alexander Chekmenev ist einer der bekanntesten Fotografen der Ukraine. Seine Bilder werden von der New York Times und anderen internationalen Medien gekauft. Aktuell porträtiert er Menschen in Kiew. Zum Beispiel die 23-jährige Katya, die als Freiwillige an die Front zog und Kiew gegen die russischen Angreifer verteidigte. "Hoffentlich geht es ihr gut", sagt er. "Ich habe ihre Telefonnummer, aber ich traue mich gar nicht, sie zu wählen. Solange ich sie nicht anrufe lebt Katya. So ist das für mich." Bevor Alexander Chekmenev ein Porträt macht hört er den Menschen lange zu: "Meine Kamera ist meine Waffe und die schießt präziser und weiter als eine Kalaschnikow. Meine Fotos sind wie Kugeln, die von der Ukraine bis nach Hamburg reichen, sogar bis ganz nach Amerika. Für mich erscheint es sinnvoller nicht als Soldat, sondern als Fotograf zu kämpfen." Fotos für ein kollektives Gedächtnis. Sie alle wollen, dass die Welt weiter hinschaut und der Ukraine beisteht.

Die Neue Ab-Normalität, sie ist im Land von Kateryna Radchenko Alltag geworden. "Im 21. Jahrhundert kann man doch keine Kriege mehr führen", sagt die Kuratorin. "Wir müssen sie alle beenden. Menschen dürfen sich nicht gegenseitig umbringen! Das ist einfach so absurd, was da gerade passiert."

 

 

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Die Ausstellung in den Hamburger Deichtorhallen zeigt, wie der Alltag der Menschen in der Ukraine aussieht.

Art:
Ausstellung
Datum:
Ende:
Ort:
PHOXXI, temporäre Haus der Photographie der Deichtorhallen Hamburg

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur - Das Journal | 12.09.2022 | 22:45 Uhr

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