Der Eingang zum Haupthaus  "Thalia" am Eingang des Hamburger Thalia Theaters. © Georg Wendt/dpa-Bildfunk Foto: Georg Wendt

Thalia Theater Hamburg: Wo ist das Publikum?

Stand: 01.05.2022 08:01 Uhr

Wo ist das Publikum? Das fragt sich Regisseur Christopher Rüping aktuell einem Tweet . Kurz vor der Premiere von "Brüste und Eier" waren im Thalia Theater noch viele Plätze frei. Woran liegt das?

von Anina Pommerenke

Für die Premiere des Stücks "Brüste und Eier" von Mieko Kawakami am Hamburger Thalia Theater waren kurz vor der Premiere noch viele Plätze frei - die erste Premiere in der Karriere des Theatermachers, die nicht ausverkauft war.

Herr Rüping, wie erklären Sie sich das?

Christopher Rüping: Ich glaube, primär durch Corona - es herrscht eine große Verunsicherung. Dieser Tweet, von dem Sie gerade gesprochen haben, wenn man da drunter in die Kommentaren liest, dann gibt es sowohl Leute, die sagen, dass sie nirgendwo hingehen wollen, wo man eine Maske tragen muss. Und auch Leute, die sagen, ich möchte nirgendwo hingehen, wo so viele Menschen sind, weil ich Angst habe vor dem Infektionsrisiko. Ich glaube, dass es da wahrscheinlich eine extreme Zerrissenheit gibt im Publikum. Und dass man nicht mehr einfach so ins Theater geht, sondern weil man eine bestimmte Arbeit sehen will. Da hat es ein Titel wie "Brüste und Eier" vielleicht doch schwerer, der manche vielleicht abschrecken wird, andere vielleicht auch neugierig macht, in jedem Fall aber nicht mit einer bestimmten Erwartung verbunden ist, dass man vielleicht dieses oder jenes zu sehen bekommen. Insgesamt ist es aber so, dass tatsächlich auch in anderen Städten und bei anderen Stücken viel weniger Leute ins Theater gehen als vor Corona.

Was macht das mit Ihnen auf einer emotionalen Ebene?

Rüping: Das ist schwer, denn ich verstehe das! Es ist nicht so, dass ich mich frage, warum kommen die Leute nicht: So eine Unverschämtheit, ich fühle mich in meinem Künstlersein gekränkt... Ich verstehe das, mir geht es auch so! Ich gehe jetzt gerade kurz vor der Premiere, von der ich weiß, dass sie gefährdet ist, wenn ich mich jetzt irgendwo anstecke, auch nicht ins Theater. Das heißt, ich verstehe alle Überlegungen, die vielleicht dazu führen, dass die Menschen nicht mehr ins Theater kommen oder sich die Entscheidung schwerer machen als zuvor. Und gleichzeitig ist es natürlich so, dass wir Theater für ein Publikum machen. Ich finde, man könnte sogar sagen, es gibt kein Theater ohne Publikum. Und deswegen ist jetzt ein zu zwei Dritteln oder drei Vierteln besetzter Zuschauerraum bei der Premiere eine Situation, die mich trotzdem traurig macht - ohne dass ich emotional Unverständnis oder Wut empfinden würde. Sondern einfach aufgrund der Umstände, in denen wir gerade leben. Das hat bestimmte Situationen zufolge. Und diese ist eine, die mich traurig macht, obwohl ich sie verstehe.

Schlägt sich das auf die Stimmung im Ensemble nieder?

Rüping: Bisher nicht. Wir haben extrem schöne Proben, weil es wirklich ein besonderes Projekt ist, ein toller und außergewöhnlicher Stoff. Und wirklich ein großartiges Ensemble - eine richtig gute Truppe! Während der Proben macht es noch keinen Unterschied, wie die Vorstellungen später verkauft sein werden. Das ist keine Rückkopplung auf die Stimmung bei uns. Wir fiebern unserer Premiere entgegen, wie man das eben so macht. Ich kann mir aber vorstellen, dass das dann irgendwie an die Nieren geht, wenn man dann vor immer halb leeren Raum spielt. Das weiß ich aber nicht, da müsste man mal das Ensemble fragen. Für Arbeiten, die man sehr gerne mag, wünscht man sich ein sehr großes Publikum. Und ich hoffe, dass das hier eine der Arbeiten wird, die das Ensemble sehr gerne spielt und gerne zeigen möchte.

Haben Sie eine Lösung für das Dilemma, das Sie gerade selbst aufgezeigt haben?

Rüping: Das ist die Zeit, in der wir leben! Es gibt keinen Lösungsvorschlag. Es gab diese unsägliche Systemrelevanz-Debatte zu Beginn der Pandemie. Theater ist nicht überlebenswichtig. Niemand stirbt, wenn er oder sie nicht ins Theater gehen kann. Aber das Leben ist halt viel weniger schön. Und im Moment befinden wir uns in einer Situation, in der sich viele fragen, welchen Luxus und welche Schönheit, die nicht unbedingt zwingend notwendig sind fürs Überleben, man sich gönnt. Es ist klar, dass die Entscheidung da nicht automatisch auf den Besuch im Theater fällt. Ich glaube, das Einzige, was man im Moment machen kann: Warten, wie sich die Situation entwickelt. Von unserer Seite aus: so gutes und aufregendes Theater zu machen, wie möglich. Das haben wir vor und während der Pandemie allerdings auch schon versucht. Das ist jetzt keine neue Idee. Mir fällt das selbst schwer einzuschätzen, ob diese Pandemie dann irgendwann zu Ende ist oder nicht. Denn wenn man jetzt über die Zeit nach Corona spricht, frage ich mich: Dieses Misstrauen in Menschenansammlungen, in geschlossenen Räumen - geht das irgendwann noch einmal weg? Verlieren wir das wieder oder bleibt das? Wenn das bleibt, dann ist es angebracht, über eine Reformation des Zuschauerraums nachzudenken. Wenn es sich wieder legt und wir einfach gerade in so einer Phase sind, in der das Flugzeug beschleunigt und wir kurz in unsere Sitze gedrückt werden, uns kurz justieren müssen und erst wenn wir Reisegeschwindigkeit oder Flughöhe erreicht haben, uns wieder bewegen können, dann heißt es einfach: abwarten.

Sie haben die Bühnenfassung selbst geschrieben, es ist die Uraufführung, wie viel Herzblut steckt in diesem Projekt?

Rüping: "Brüste und Eier" ist für mich ein absolutes Herzensprojekt. Es gibt durchaus Inszenierungen, die auf einem komplett anderen Wege zustande kommen. Weil sich zum Beispiel ein Ensemble einen Stoff wünscht, oder ein Theater sich einen Stoff wünscht oder man bei anderen Dingen Abstriche machen muss. Das ist hier gar nicht so. "Brüste und Eier" war ein Roman, den ich gelesen habe, den ich unbedingt inszenieren wollte. Und zwar mit genau den Leuten, die man jetzt auf der Bühne sehen wird. Das heißt, das ist wirklich ein richtiges Herzensprojekt! Wir hatten eine Voraufführung mit einem kleinen Publikum und ich glaube, dass man das instinktiv verstehen kann, dass das eine persönliche Angelegenheit ist und ein Projekt, hinter dem wir als Macherinnen und Machern stehen und mit dem wir viel verbinden.

Mögen Sie dazu noch ein bisschen mehr verraten?

Rüping: Ja, sehr gerne! Das ist ja das eine: Man redet über das Ausbleiben des Publikums und vielleicht macht es genau so viel Sinn, darüber zu reden, warum es sich lohnt, ins Theater zu gehen! Diejenigen, die den Roman nicht kennen, haben sicherlich eine ganz andere Erfahrung als die Leute, die den Roman kennen. Es ist ein wundervoller Roman von einer zeitgenössischen japanischen Autorin, Mieko Kawakami. Es geht um die großen Menschheitsfragen. Insbesondere die, die viel zu selten gestellt werden im Theater. Wo zwar immer große Fragen gestellt werden, aber halt häufig von Männern.

Und in diesem Fall geht es um die Frage der Mutterschaft und der Elternschaft. Soll man Kinder bekommen? Will man Kinder bekommen? Und wenn ja, in welche Welt möchte man die setzen? Das ist so eine existenzielle Frage, die sonst im kanonischen Theater wenig behandelt wird. Und hier in einer Art und Weise mit einem extrem spielfreudigen Ensemble, mit einer Formenvielfalt, mit guter Musik und tolle Schauspielerinnen und Schauspielern und den ganz großen Fragen. Als Theaterpublikum hat man gelernt, die großen Fragen immer anhand der leidenden Männerfiguren zu stellen, weil das eben Goethe, Schiller und Shakespeare so gemacht haben. Aber hier ist es so, dass man diese Fragen über extrem zeitgenössische, über wahnsinnig komplizierte und sehr komplexe Frauenfiguren stellt. Ich finde, das ist ein ziemlicher Genuss.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Matinee | 30.04.2022 | 06:30 Uhr

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