Szenen aus "Rivka" im Ballhof Zwei in Hannover. © Kerstin Schomburg/ Katrin Ribbe

"Rivka" von Judith Herzberg: In vielerlei Hinsicht packend

Stand: 17.09.2022 09:11 Uhr

von Andrea Schwyzer

Autorin des Stücks ist die Lyrikerin und Dramaturgin Judith Herzberg. Sie ist 1934 in Amsterdam geboren und hat den Krieg bei nicht-jüdischen Pflegeeltern verbracht. Auch ihre leiblichen Eltern haben überlebt - sie waren im KZ Bergen-Belsen. "Rivka" könnte die Geschichte von Judith Herzberg sein. Doch der wohl bedeutendsten niederländischen Schriftstellerin geht es um mehr als eine biografische Erzählung.

Wie packen, ohne die Zukunft zu kennen?

Szenen aus "Rivka" im Ballhof Zwei in Hannover. © Kerstin Schomburg/ Katrin Ribbe
Tabitha Frehner und Max Koch spielen Erna und Jacob - ein Ehepaar, gequält von der Frage: Was ist gut für Rivka?

Da ist dieses Paar - eine junge Frau, ein junger Mann. Gerade eben haben sie ihre kleine Tochter, Rivka, weggegeben, um sie vor den Nazis zu verstecken, um sie zu schützen. Und nun? Nun packen sie zwei Koffer. Mehr sind nicht erlaubt. "Das Thema für mich war 'Packen' - wie man packt", erzählt Herzberg. Sogar wenn man in die Ferien fahre, wisse man nicht, was man mitnehmen müsse. "Das kennt natürlich jeder, diese kleine Panik - was soll mit? Und dann kann man das vergrößern, zu einer dringenden, gefährliche Situation. Wie packt man dann?"

Dass die bevorstehende Reise nichts mit Urlaub zu tun hat, ist dem Paar klar. Warum sonst hätten die beiden das eigene Kind weggegeben. Ein Horror-Szenario. Und trotzdem: Einpacken, auskippen, umpacken. "Das ist eine unglaubliche Spannung, die fast jeder hat in der Welt. Sehr, sehr viele Leute haben das", sagt Judith Herzberg. Sie denkt dabei an die Menschen, die vor Krieg und Hunger fliehen: "Wie bereitet man sich dafür vor, ohne zu wissen, was sein wird?"

Herzberg für Regisseur Stephan Kimmig eine "lebende Ikone"

Im Ballhof Zwei sitzt das Publikum eineinhalb Stunden ganz nah dabei - schaut den Eheleuten zu, wie sie versuchen, mit der bedrohlichen Realität umzugehen. Die Frau flüchtet sich immer wieder in surreale Welten. Der Mann bleibt hilfloser Beobachter. Regie führt Stephan Kimmig. Er inszeniert zum vierten Mal ein Stück von Judith Herzberg - die beiden kennen sich seit mehr als 20 Jahren. Für Kimmig ist Herzberg eine "lebende Ikone": "Sie ist ja Dichterin. Dadurch beherrscht sie die Kunst, in drei Sätzen Sachen zu sagen, wo andere 40 Sätze brauchen und weniger erzählen."

Der 63-Jährige schwärmt von der lebendigen, vielschichtigen Sprache Judith Herzbergs. Darum komme er auch nicht von ihren Texten los: "Weil du damit nicht fertig bist. Weil das so reich ist, dass mich die Figuren verfolgen." Immer wieder finde er Aspekte der Figur, die noch nicht erzählt worden sind: "'Rivka' bei den Proben, das hört gar nicht auf. Und du entdeckst permanent noch neue Layers darunter und daneben und Möglichkeiten, wo du einen Bruch spielen kannst".

Der Umgang mit Angst, Bedrohung und Ungewissheit

Für die heute 87-jährige Autorin ist es gut ausgegangen: Sie fand nach dem Krieg im Jahr 1945 wieder mit ihren Eltern zusammen. Wie wird es für das kleine Mädchen Rivka weitergehen? "Keine Ahnung. Ich weiß es nicht und ich würde das am liebsten auch offenlassen, denn wenn man es löst, dann ist es weg", findet die Autorin. "Aber wenn man es nicht löst, dann kommt man vielleicht raus mit einer Frage und die Frage ist es natürlich, worum es geht."

Um die Ungewissheit, um Angst und Bedrohung und wie Menschen damit umgehen. Welche Rolle spielt dabei Humor? Es geht um ein Gespür für das Unausgesprochene. Um Erfahrungen, an die das Publikum andocken kann. Was es dann mit den aufkommenden Gefühlen macht, bleibt ihm selbst überlassen, findet Judit Herzberg: "Ich hatte keine Botschaft. Ich habe mich auf diese Geschichte konzentriert und nicht auf eine Moral."

 

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"Rivka" von Judith Herzberg: In vielerlei Hinsicht packend

Das Stück "Rivka" der Lyrikerin und Dramaturgin Judith Herzberg ist als deutsche Erstaufführung im Ballhof Zwei in Hannover zu sehen.

Art:
Bühne
Datum:
Ende:
Ort:
Ballhof Zwei
Knochenhauerstraße 28
30159 Hannover
Telefon:
0511 99991111
E-Mail:
kartenservice@staatstheater-hannover.de
Preis:
Ab 21 €, erm. ab 5 €
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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Klassisch in den Tag | 17.09.2022 | 08:40 Uhr

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