Ein Foto aus der Bundesliga-Saison 2020/2021 zeigt Spieler des VfL Wolfsburg und von Schalke 04 vor einem Transparent in Regenbogenfarben mit der Aufschrift "#Vielfalt". © picture alliance / augenklick/Ralf Ibing /firo Spor | firo Sportphoto/Ralf Ibing

Vielfalt im Sport: Hoffnungsschimmer auf der Dauer-Baustelle

Stand: 31.05.2022 08:25 Uhr

Fairness und Chancengleichheit zählen zu den grundlegenden Werten im Sport. Doch werden sie auch gelebt, wenn es um die Akzeptanz und Sichtbarkeit von Frauen geht? Eine Bestandsaufnahme und Teil zwei einer Sportserie bei NDR.de zum Diversity-Tag.

von Ines Bellinger

Fast die Hälfte aller Teilnehmenden an den Olympischen Spielen in Tokio waren Frauen. Die Geschäfte der Deutschen Fußball Liga führt seit diesem Jahr Donata Hopfen. Und im Präsidium des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) sitzen seit März gleich vier Vizepräsidentinnen, nachdem die Hamburgerin Hannelore Ratzeburg jahrzehntelang allein gegen eine "Männerwirtschaft" im größten deutschen Sportfachverband angekämpft hatte. Steht der Sport zumindest beim Thema Geschlechtergerechtigkeit also gar nicht so schlecht da?

Sportsoziologin Hartmann-Tews: Männer sind immer die Referenz

Auf den ersten Blick vielleicht - und vor allem dank einiger "Reparaturen", die auf der Dauer-Baustelle der Vielfalt im Sport in jüngster Zeit zu sichtbaren Fortschritten geführt haben. Doch es gibt noch viele Felder zu beackern, was Wahrnehmung, faire Bezahlung, Chancengleichheit und Wertschätzung im Sport betrifft. "Männer sind immer die Referenz, haben immer die Priorität - und entsprechend sind Frauen immer in der zweiten Reihe", sagt Ilse Hartmann-Tews, Sportsoziologin an der Sporthochschule Köln, im NDR Sportclub. "Und dann ist es quasi die logische Folge, dass sie auch schlechter bezahlt werden. Das ist natürlich eine extreme soziale Ungleichheit."

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Olympia begründete das männliche Athletentum

Dass auch im Sport fast immer Bezug genommen wird auf die Leistung von Männern, ist historisch tief verwurzelt. So begriff Baron Pierre de Coubertin, Begründer der Olympischen Spiele der Neuzeit, das Weltfest des Sports als Zeremonie männlichen Athletentums mit "weiblichem Applaus als Belohnung". Fast 130 Jahre später sind solche Geschlechterklischees nur noch in wenigen Sportarten vorhanden. Im Sprachgebrauch halten sich Vorurteile aber hartnäckig. So wird beharrlich von Frauenfußball und Frauenhandball gesprochen, so als wären es eigenständige Sportarten und nicht Sportarten, die von Frauen und Männern gleichermaßen ausgeübt werden.

"Männer sind immer die Referenz, haben immer die Priorität - und entsprechend sind Frauen immer in der zweiten Reihe." Sportsoziologin Ilse Hartmann-Tews

"Der größte Gewinner von Geschlechterquote, Chancengleichheit und Vielfalt im Sport wird der Sport selbst sein", heißt es auf der Website des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB). Zugleich stellte die Frauen-Vollversammlung der Dachorganisation im deutschen Sport im September 2021 fest, dass es auf dem von "viel Engagement und vielen Kämpfen" gepflasterten Weg der Teilhabe noch erhebliches Potenzial zu heben gebe. Vor allem in Führungspositionen, wo Strategien vorgegeben und Veränderungsprozesse angestoßen werden. So lag der Frauenanteil im deutschen Trainerteam bei den Olympischen Spielen in Tokio bei gerade einmal acht Prozent.

Chefinnen im deutschen Sport unterrepräsentiert

Studien haben längst belegt, dass gemischte Teams und Teams mit Frauen in Führungspositionen besser funktionieren und erfolgreicher sind. Doch obwohl Fairness und Chancengleichheit zu den grundlegenden Wertvorstellungen im Sport gehören, scheint sich diese Erkenntnis dort nur langsam durchzusetzen. Nach einer Untersuchung des Fachmediums "Stadionwelt" sind Frauen in den Führungsebenen von Sportverbänden noch immer klar unterrepräsentiert.

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In den ersten Ligen im Fußball, Eishockey, Handball und Basketball waren zum Stichtag 1. Januar 2022 nicht einmal zehn Prozent Frauen in den Geschäftsführungen der Vereine vertreten. In den 160 DAX-Unternehmen erhöhte sich nach einer Studie des Prüfungs- und Beratungsunternehmens Ernst & Young die Zahl weiblicher Vorstandsmitglieder innerhalb eines Jahres von 74 auf 94 - das sind 13,4 Prozent Anteil an den Posten im Topmanagement der Wirtschaft.

Sportlerinnen in Berichterstattung benachteiligt

Ein weiterer Punkt, den nicht nur die Frauen im DOSB monieren, ist die Darstellung von Sportlerinnen in den Medien. Wie in Führungspositionen sind Frauen auch hier deutlich benachteiligt. Laut Untersuchungen der Hochschule Macromedia Hamburg lag der Anteil der Berichterstattung über Sportlerinnen in lokalen Medien im Jahr 2019 bei unter zehn Prozent. "Das ist über die letzten 20 Jahre schon so. Es zeichnet sich nicht viel Veränderung ab", lautet die ernüchternde Bestandsaufnahme von Hartmann-Tews. Es werde auch anders über Sportlerinnen berichtet: "Sie sind weitaus weniger in sportlicher Aktion zu sehen als Männer. Und auch ihre Leistung wird weitaus weniger in Worten und in der Beschreibung gewürdigt als die Leistung der Männer."

TSV Nord Harrislee: Handballerinnen starten Crowdfunding

Die Handballerinnen des TSV Nord Harrislee starteten beispielsweise eine Crowdfunding-Aktion, um die nächste Zweitliga-Saison zu finanzieren. "Wir sind die erfolgreichste Frauen-Handballmannschaft in Schleswig-Holstein. Und dann ist es so schwer für uns, einen Sponsor zu finden, obwohl wir deutschlandweit vertreten sind. Das ist schon irgendwie nicht zu verstehen", sagt Kapitänin Ronja Lauf. Der Wasserball-Nationalmannschaft geht es nicht anders: Einen Spendenaufruf sehen die deutschen Frauen als letzte Möglichkeit, die fehlenden 50.000 Euro für die Reise zur Europameisterschaft nach Kroatien zuammenzukratzen.

Reiten: Punktabzug bei verkürzter Babypause

Eine Sportart, in der Frauen und Männer gleichberechtigt auf höchstem Niveau gegeneinander antreten ist das Reiten. Dennoch gibt es auch dort Regelungen, von der sich Frauen diskriminiert fühlen. So startete die Hamburger Springreiterin Janne Friederike Meyer-Zimmermann schon zwei Monate nach der Geburt ihres Sohnes wieder bei einem Turnier in Spanien - und bekam alle ihre Weltranglistenpunkte aberkannt, weil sie die geplante Pause von sechs Monaten nicht eingehalten hatte. Aber auch wenn sie erst nach einem halben Jahr in den Parcours zurückgekehrt wäre, hätte sie 50 Prozent ihrer Punkte verloren. Eine Benachteiligung von Frauen, findet Meyer-Zimmermann, die deshalb gemeinsam mit anderen Reiterinnen die Initiative "#EqualEquest" für mehr Chancengerechtigkeit im Reitsport ins Leben gerufen hat.

Beachhandball: Geldstrafe für Radlerhose statt Bikini-Slip

Leider spielen bei Frauen und Mädchen im Sport nach wie vor auch Äußerlichkeiten eine Rolle. Der Drang, mehr Aufmerksamkeit zu erregen, führte in einigen Sportarten sogar zu recht freizügigen Kleidungsvorschriften. So erregten im vergangenen Sommer die norwegischen Beachhandballerinnen Aufsehen, als sie bei der Europameisterschaft statt der vorgeschriebenen Bikini-Slips aus Protest Radlerhosen trugen. Der Europäische Handball-Verband brummte den Norwegerinnen daraufhin eine Geldstrafe auf. Inzwischen wurde die Regel geändert.

50:50-Challenge - NDR schließt sich BBC-Initiative an

Das Problem einer ausgewogenen Berichterstattung gibt es nicht nur in Deutschland. In Großbritannien hat die BBC vor fünf Jahren die 50:50-Challenge ins Leben gerufen. Dabei geht es darum, dauerhaft ebenso viele Frauen wie Männer auf dem Bildschirm und hinter dem Mikrofon zu präsentieren, sie in den Programminhalten gleichberechtigt abzubilden. Der NDR hat sich dieser Initiative angeschlossen.

Großbritannien hat als Gastgeber der Europameisterschaft im Juli in den vergangenen Jahren auch für die Förderung und Vermarktung von Frauen im Fußball Bahnbrechendes geleistet. Anfang des Jahres übernahm Unternehmensmanagerin Debbie Hewitt als erste Frau in der 150-jährigen Geschichte der Football Association (FA) den Vorsitz des Verbandes. In Norwegen wurde die ehemalige Spielerin Lise Klaveness im März zur Präsidentin des nationalen Fußballverbandes gewählt. Und in Deutschland?

Kumpis, Schwedler, Omilade: Frauen an die Macht

Im DFB liegt der Frauenanteil in Führungspositionen nach Verbandsangaben mittlerweile bei rund einem Viertel. Gerade erst haben die Vertreter der 36 Bundesliga-Clubs verpflichtende Kriterien für die Erlangung der Lizenz beschlossen. Dazu gehört auch ein Verhaltenskodex, nach dem sich Mitarbeitende von jeglicher Art der Diskriminierung abzugrenzen und zu Gleichberechtigung, Diversität und Inklusion zu bekennen haben.

Tatsächlich übernehmen in den Clubs immer mehr Frauen verantwortliche Positionen. Der FC St. Pauli hat in Sandra Schwedler schon seit acht Jahren eine Aufsichtsratsvorsitzende, Eintracht Braunschweig in Nicole Kumpis seit März erstmals eine Präsidentin. Zuletzt wurde die ehemalige Nationalspielerin Navina Omilade als erste Frau in den Aufsichtsrat von Holstein Kiel berufen.

Auch wenn der deutsche Sport in puncto Vielfalt und Geschlechtergerechtigkeit offensichtlich mehr auf Impulse von außen reagiert als selbst zu agieren - dem Verlangen nach mehr Teilhabe kann sich niemand mehr verweigern. Die nächsten wirkmächtigen Abschnitte auf der Langzeit-Baustelle werden womöglich bald freigegeben.

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Dieses Thema im Programm:

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