Ein Tennisball liegt an einem Tennisnetz. © IMAGO / photothek

Missbrauchsvorwürfe im Tennis: Warum zog keiner die Reißleine?

Stand: 31.05.2021 10:49 Uhr

Ein im Tennis erfolgreicher Trainer aus dem Hamburger Umland soll über Jahrzehnte sexuell übergriffig gewesen sein. Ein mutmaßliches Opfer packt im Sportclub des NDR aus. Die Kieler Staatsanwaltschaft ermittelt.

von Andreas Bellinger, Andreas Becker und Hendrik Maaßen

Es sind erschreckende Zahlen, die das Bundeskriminalamt jüngst vorgelegt hat. Die Zahl der Opfer sexualisierter und sexueller Gewalt unter 14 Jahren ist im vergangenen Jahr weiter gestiegen: um 6,2 Prozent auf 16.921. Wobei sich die Experten sicher sind, dass die Dunkelziffer um ein Vielfaches höher ist. Überall in der Gesellschaft, auch im Sport. Einer dieser mutmaßlichen Missbrauchsfälle ist derzeit bei der Staatsanwaltschaft in Kiel anhängig. Über Monate hat ein Team des NDR diesen Fall aus dem Tennis recherchiert, hat Hinweise und Fakten gesammelt, mit mutmaßlichen Opfern, Zeugen und auch dem Beschuldigten gesprochen. Dieser will sich im Sportclub des NDR aber nicht äußern, schriftlich bestreitet er sämtliche Anschuldigungen.

Ein schrecklicher Verdacht

Über mehr als 30 Jahre soll der heute 64 Jahre alte Tennistrainer im Hamburger Umland übergriffig gewesen sein, Kinder, die er trainierte, angefasst und sexuell missbraucht haben. Ein schrecklicher Verdacht, der die Frage aufwirft: Warum hat niemand über all die Jahre die Reißleine gezogen? Der Kieler Staatsanwalt Axel Bieler, der wie schon bei zwei Verfahren gegen den Mann zuvor erneut federführend ermittelt, sagt: "Hinschauen ist das Wichtigste und darüber reden." Doch den vermeintlichen Opfern wurde nicht zugehört. Eigenen Angaben zufolge wurden sie sogar als "Nestbeschmutzer" beschimpft.

Eine Betroffene äußert sich im NDR

Eine von mindestens sechs Betroffenen, die Anzeige erstattet haben, hat sich dem NDR offenbart. Unkenntlich gemacht und die Stimme synchronisiert, berichtet sie im Sportclub von den ihr in rund zehn Jahren widerfahrenen Übergriffen, von ihren Ängsten, Zweifeln ("Das ist doch eigentlich dein Trainer") und der Hoffnung: "Vielleicht war es ein Ausrutscher‚ er macht das nie wieder." Es sei ja auch nicht jedes Mal passiert, manchmal drei, vier Monate nicht und dann wieder in zwei Wochen mehr. "Das ist so scheinheilig, man kriegt es nicht mit."

Niemand will etwas bemerkt haben

Niemand sonst will etwas bemerkt haben. Der Ruf des Erfolgstrainers, der den Talenten die Chance auf eine Karriere im "weißen Sport" in Aussicht stellte, überdeckte offenbar alles, was Joachim J. vorgeworfen wird. Selbst M., sein Freund, der mehr als 20 Jahre sein Trainer-Kollege war, sagt, dass ihm lange nichts aufgefallen sei: "Man ist einen ganz langen, weiten Weg gemeinsam gegangen und hat sich eigentlich aufeinander verlassen. Habe ich gedacht."

Staatsanwalt: Täter haben ihre Profile

Doch dann, vor ungefähr zehn Jahren, machte ihn ein Hinweis stutzig. M. begann, den Anschuldigungen auf den Grund zu gehen, kontaktierte junge Frauen, die er und J. als Mädchen gemeinsam trainiert hatten. "Butter bei die Fische! Was ist denn da passiert?", habe er von ihnen wissen wollen. Die Antwort traf ihn wie ein Donnerschlag, weinend sei er zusammengebrochen. "Ich konnte nicht glauben, was passiert ist. Wenn man ein Kind anfasst, ein zwölfjähriges Kind anfasst, dann ist das verwerflich."

Geschehen sei die sexuelle Belästigung niemals auf dem Platz, berichteten Tennisschülerinnen, sondern immer in Eins-zu-Eins-Situationen wie beispielweise einer Videoanalyse im Trainerzimmer. "Die Täter haben da schon ihre Profile und wissen, wen sie anfassen können und wen nicht, wo es Probleme gibt und wo nicht", sagt Jurist Bieler.

Mutmaßliches Opfer: "Die Seele geht woanders hin"

Wie sich die Hilflosigkeit anfühlt, welche seelischen Folgen sexuell motivierte Übergriffe haben, schildert das vermeintliche Opfer, als das es solange gilt, wie nichts bewiesen ist: "Das ist ein kaltes Gefühl und du willst einfach weg. Aber du kannst nicht", erinnert sich die Frau noch viele Jahre später an das als Mädchen Erlebte. "Du musst raus, aber du weißt nicht wohin. Du kannst nicht schreien. Als wären Tonnen an deinen Gelenken, an deinem Körper. Es ist nur der Körper, aber die Seele geht woanders hin. Weglaufen geht auch nicht; es ist ja der nette Onkel von nebenan."

Erste Anzeige ohne Erfolg

Zehn Jahre alt sei sie gewesen, als sie ihr Trainer das erste Mal angefasst habe, sagt sie. Bis sie volljährig war, habe es immer wieder Übergriffe gegeben - bis sie und andere Betroffene den Mut gefunden hätten, ihren Trainer ein erstes Mal anzuzeigen. Zu viert, aber ohne Erfolg. Die vermeintlichen Taten galten 2011 bereits als verjährt. "Du stehst eigentlich komplett alleine da. Du hast niemanden, der wirklich zuhört. Du hast niemanden, der dich an die Hand nimmt und sagt: Okay, wir müssen das angehen, der muss bestraft werden", erzählt sie. Er werde nie wieder Fuß fassen im schleswig-holsteinischen Tennis, habe man ihr damals gesagt. "Und drei Monate später kriegt er eine Festanstellung in einem Tennis-Verein. Da fühlt man sich als Mädel, dem so etwas passiert ist, verarscht."

Auch die Stieftochter zeigte den Beschuldigten an

Als der Trainer 2019 erneut angezeigt wurde, muss es die mutmaßlich Betroffene eine Menge Kraft gekostet haben. Der Oberstaatsanwalt heißt wieder Axel Bieler, der frühere Verfahren nach "Anzeigen verschiedener Personen" (mindestens sechs) bestätigt und aktuell eine richterliche Vernehmung ankündigt. "Alle anderen Verfahren sind eingestellt worden", so Bieler mit Verweis auf die Vorwürfe zu den verjährten Vorfällen von 2011 und ein Verfahren von 2008. Damals ging es um eine Anzeige der Stieftochter des Beschuldigten wegen sexueller Übergriffe im Badezimmer. Das Verfahren wurde gegen Zahlung einer Geldbuße beendet.

Staatsanwalt: "Müssen eine konkrete Tat herausfiltern"

"Wir haben bislang keine Übergriffe in der Gestalt festgestellt, dass eine Verurteilung in Betracht zu ziehen war", erklärt Bieler. "Er hat das mal gemacht, reicht uns Juristen nicht aus. Wir müssen eine konkrete Tat, die wirklich für Dritte und insbesondere auch für den Täter individualisiert wahr ist, herausfiltern." Anschuldigungen allein, auch wenn sie selbst für die Justiz glaubhaft erscheinen, reichten nicht. Im Zweifel für den Angeklagten - dieses rechtsstaatliche Prinzip gilt auch hier. Aber hilft das den mutmaßlich Betroffenen, denen womöglich weiteres Leid zugefügt wird, weil auch diesmal nicht sicher ist, dass die Vorwürfe zu beweisen sind und zu einer Verurteilung führen werden?

Mutmaßliches Opfer nicht mehr im Tennis

Dem Beschuldigten will das mutmaßliche Opfer niemals wieder gegenüberstehen, sagt sie. Aus der Tennis-Szene hat sie sich inzwischen verabschiedet. Vielleicht auch wegen der Erlebnisse, als sie noch Trainerin in dem Verein war, in dem auch ihr vermeintlicher Peiniger wieder auftauchte. Obwohl sie den Vorsitzenden des Clubs über ihre Anzeige informiert hatte, durfte J. auf einem Nebenplatz arbeiten. Man müsse ihm ja eine zweite Chance geben, lautete die Begründung. "Da denkst du: Leute, das geht nicht. Ich gehe doch nicht zum Spaß zur Polizei, oder? Ich gehe doch nicht sonst wohin und mache so eine Anzeige."

Was machen die Verbände?

Frank Intert war mit dem mutmaßlichen Täter befreundet und geschäftlich verbunden. Er ist seit 2013 Präsident des Tennisverbands Schleswig-Holstein und seit diesem Jahr auch Vorsitzender des Bundesausschusses im Deutschen Tennis Bund (DTB). Beide Verbände haben sich Prävention groß auf ihre Fahnen geschrieben. Die Kritik, dass niemand zugehört und etwas unternommen habe, verstehe er hundertprozentig, sagt Intert: "Nur wann welche Reißleine gezogen werden kann, hängt immer davon ab: Welche Konstellation habe ich in welcher Situation und wer hat welche Möglichkeit zu handeln?"

Intert: Eltern sprachen von "Rufschädigung"

Intert hat eigenen Angaben zufolge mit Eltern, deren Kinder beim Beschuldigten trainierten, gesprochen. Er sei beschimpft worden. Von "Rufschädigung" sei die Rede gewesen. Und dass J. doch ein toller Trainer sei. Kein Wort des Dankes für die Information. Kein Nachdenken, wie man reagieren und die Kinder gegebenenfalls schützen könnte. Wie viele Betroffene es wohl gegeben hat? "Eine gute Frage", sagt Intert. "Darüber habe ich noch nie nachgedacht."

Sportsoziologin: "Täter gehen sehr manipulativ vor"

Die Gründe für ein Wegschauen seien vielfältig, sagt Sportsoziologin Bettina Rulofs im Sportclub: "Die Täter gehen meist sehr manipulativ vor, binden sowohl die Betroffenen als auch deren Eltern und das gesamte Vereinsumfeld in ein Netz des Vertrauens und auch der gegenseitigen Freundschaft ein." Betroffene merkten natürlich auch, zumal wenn sie Kinder sind, sich schämen und die Situation nicht richtig einschätzen können, "dass sie Schwierigkeiten bekommen, wenn sie sich anvertrauen", so die Professorin von der Universität Wuppertal, die zu den führenden Wissenschaftler*innen auf dem Gebiet der sexualisierten Gewalt im Sport zählt. Überdies würden Vereine und Verbände beispielsweise meistens auch bemüht sein, ihren eigenen guten Ruf, ihre hohe Reputation zu erhalten.

Frustrierende Spurensuche

Zehn Jahre ist es inzwischen her, dass M. begonnen hat, den unfassbaren Vorwürfen gegen seinen Trainerkollegen nachzugehen. Er spricht über die Belastung, die die Berichte und Erzählungen der vermeintlich Betroffenen auch bei ihm ausgelöst haben. "Wenn man Erwachsener ist, dann hat man einen Job." Aber es habe ihn frustriert, dass ihm niemand geglaubt habe: "Dieses: Mit dem Thema haben wir nichts zu tun. Dieser Standpunkt hat mich zehn Jahre meines Lebens gekostet."

"Niemand hat sich gekümmert"

Schweigen gepaart mit Ehrgeiz, Erfolgszwang und dem Ziel einer großen Karriere ist wahrscheinlich das größte Problem - in vielerlei Hinsicht. "Wenn du ein guter Trainer bist auf dem Platz, dann guckt man über solche Sachen hinweg", sagt das mutmaßliche Opfer, das noch immer darauf wartet, eine Aussage vor Gericht machen zu können. Sie habe gesagt, was passiert ist. Aber weder im Vorstand noch im Verein, noch im Verband habe man ihr zugehört. Im Sportclub zieht sie ein bitteres Fazit: "Niemand hat sich gekümmert, niemand hat wirklich Interesse gezeigt, dass das ein Ende hat."

Hilfetelefon sexueller Missbrauch

Kostenfreie und anonyme Telefon-Beratung: 0800 22 55 530
Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch: www.hilfe-telefon-missbrauch.de
Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch Online Beratung: www.hilfe-telefon-missbrauch.online

Das "Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch" ist die bundesweite, kostenfreie und anonyme Anlaufstelle für Betroffene von sexueller Gewalt, für Angehörige sowie Personen aus dem sozialen Umfeld von Kindern, für Fachkräfte und für alle Interessierten.

Dieses Thema im Programm:

Sportclub | 30.05.2021 | 23:15 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Tennis

Mehr Sport-Meldungen

Jubel bei St. Paulis Jackson Irvine © IMAGO / Ostseephoto

Irvine rettet St. Pauli beim Sieg gegen Rostock: Aufstieg ganz nah

Durch den Erfolg im Nordduell übernahmen die Hamburger zumindest vorübergehend wieder die Tabellenspitze der 2. Liga. Hansa droht der Sturz auf Platz 17. mehr