Dr. Bettina Rulofs, Professorin für Sportsoziologie von der Bergischen Universität Wuppertal und Expertin für die Erforschung von sexualisierter Gewalt im Sport. © picture alliance/dpa/Bergische Universität Wuppertal | Özlem Eryigit

Diversitätsforscherin: Sport für alle - da ist noch viel zu tun

Stand: 03.06.2022 10:50 Uhr

Bettina Rulofs forscht an der Deutschen Sporthochschule Köln zu Diversität im Sport. Im Interview spricht sie über verkrustete Strukturen in Verbänden, zu wenige Frauen in Spitzenämtern und einen Sport jenseits von Geschlechter-Sortierung. Letzter Teil einer Sportserie bei NDR.de zum Diversity-Tag.

Frau Professorin Rulofs, welches Zeugnis stellen Sie dem deutschen Sport in puncto Vielfalt aus?

Bettina Rulofs: Der Sport hat schon einiges erreicht. Positiv ist, dass es inzwischen eine stark gewachsene Sensibilität gibt für diese Themen. Das zeigt sich auch in kleinen Dingen wie einer geschlechtergerechten oder diversitätssensiblen Sprache, die bereits in vielen Sportverbänden gepflegt wird. Oder dass Frauen häufiger für Führungspositionen angesprochen werden. Aber wenn wir das sportpolitische Motto "Sport für alle" tatsächlich einlösen möchten, ist noch viel zu tun.

Wo besteht Handlungsbedarf?

Rulofs: Der Sport, wie wir ihn in Stadien und Sporthallen sehen, auf medialen Bühnen, in Verbänden und Vereinen, ist längst noch nicht so bunt wie die Bevölkerung da draußen. Es gibt eine systematische Unterrepräsentanz von bestimmten Gruppen. Dazu gehören ganz besonders Menschen aus schwachen sozioökonomischen Lagen, erwachsene und ältere Menschen mit Migrationshintergrund, Mädchen mit Migrationshintergrund und Menschen mit Behinderung. Da sehe ich erheblichen Nachholbedarf.

Im NDR Sport haben wir in dieser Woche den Schwerpunkt Frauen gesetzt, wie stellt sich die Situation bei der Geschlechtergerechtigkeit dar?

Rulofs: Wir haben in den Mitgliederstatistiken des organisierten Sports ein Geschlechterverhältnis von 40 Prozent weiblichen Mitgliedern zu 60 Prozent männlichen. Da ist zwar noch keine Geschlechterparität erreicht, aber es hat sich einiges getan. Dennoch: Wenn wir auf die verschiedenen Altersklassen schauen, dann sehen wir, dass Jungen und Männer in allen Altersklassen häufiger Mitglieder im Sportverein sind als Mädchen und Frauen. Bei den 15- bis 18-Jährigen ist es beispielsweise so, dass 45 Prozent der weiblichen Jugendlichen Mitglied im Sportverein sind. Bei den männlichen Jugendlichen sind es in dieser Altersklasse immerhin 64 Prozent. Dieser Unterschied setzt sich durch die Altersklassen fort.

Weitere Informationen
Ein Foto aus der Bundesliga-Saison 2020/2021 zeigt Spieler des VfL Wolfsburg und von Schalke 04 vor einem Transparent in Regenbogenfarben mit der Aufschrift "#Vielfalt". © picture alliance / augenklick/Ralf Ibing /firo Spor | firo Sportphoto/Ralf Ibing

Vielfalt im Sport: Hoffnungsschimmer auf der Dauer-Baustelle

Fairness und Chancengleichheit zählen zu den grundlegenden Werten im Sport. Doch werden sie auch gelebt? Eine Bestandsaufnahme zum Diversity-Tag. mehr

Wie lässt sich das ändern?

Rulofs: Offensichtlich ist das Angebot der Sportvereine für Mädchen und Frauen nicht so attraktiv wie für Jungen und Männer. Denn außerhalb von Sportvereinen sind beispielsweise erwachsene Frauen ähnlich häufig sportlich aktiv wie Männer. Um Ursachen dafür zu finden, müssen wir auf die Kultur in den Sportvereinen schauen. Ist sie so, dass sie Frauen und Mädchen willkommen heißt? Oder ist sie eher eine Kultur, die dem traditionell männlichen Prinzip entspricht - wo also noch eine starke gegenseitige Überbietungslogik eine Rolle spielt, wo Wettkampfaspekte besonders hervorgehoben werden. Das ist nicht unbedingt der Sport, den die breite Menge der Frauen und Mädchen betreiben möchte.

Wie stark sind Frauen in Führungspositionen im organisierten Sport vertreten?

Rulofs: Da sehen wir ganz eklatante Geschlechterunterschiede, eine starke Unterrepräsentanz der Frauen. Im Deutschen Olympischen Sportbund ist das auf der Führungsebene zwar schon recht vorbildlich gelöst mit einer Geschlechterparität im Präsidium. Aber wenn wir auf die ehrenamtlichen Präsidien in den vielen Mitgliedsorganisationen schauen, sehen wir, dass es beispielsweise bei den 16 Landessportbünden derzeit nur zwei gibt, die eine Präsidentin haben (Elvira Menzer-Haasis/Baden-Württemberg und Katharina von Kodolitsch/Hamburg, d.Red.). Und auch bei den Spitzenverbänden sind Frauen noch zu selten in den Führungsgremien präsent.

Als Argument, warum es nicht mehr Frauen in Spitzenämtern gibt, wird häufig genannt, dass die Frauen selbst nicht danach drängen. Ist das plausibel?

Rulofs: Es mag sein, dass die Übernahme einer Führungsposition für manche Frauen nicht so gut in ihr Lebenskonzept passt, wenn sie auch noch Familienverpflichtungen haben. Aber das ändert sich ja zunehmend. Es gibt so viele jüngere Familien, die sich die Aufgaben in der Betreuung von Kindern teilen, wo Väter genauso in der Familienverantwortung sind. Und gerade bei jüngeren Frauen gibt es durchaus ein Interesse, auch in Führungspositionen zu gehen. Sportvereine und Verbände müssen da umdenken und für Frauen, die ja hochqualifiziert sind, die viel Erfahrung und Expertise mitbringen, entsprechende Positionen vorhalten.

Frauen fordern das inzwischen aktiv ein. Das prominenteste Beispiel ist die Initiative "Fußball kann mehr". Das hat auch zu Verwerfungen im Deutschen Fußball-Bund geführt. Warum ist es so konfliktbeladen, wenn Frauen mehr Geld, mehr Förderung, mehr Mitbestimmung einfordern?

Rulofs: Das hat viel mit alten und verkrusteten Strukturen in Sportverbänden zu tun, die noch stark von Männern geprägt sind. Erst recht in Sportarten wie Fußball. Es gibt aber auch Beispiele, wo sich das umdreht, wo viel dafür getan wird, Geschlechterparität in den Führungsgremien umzusetzen oder eine andere Kultur zu pflegen.

Weitere Informationen
Bibiana Steinhaus-Webb © picture alliance/dpa | Ole Spata

Steinhaus-Webb über Diversität im Fußball: "Noch Luft nach oben"

Bibiana Steinhaus-Webb war die erste Schiedsrichterin in der Fußball-Bundesliga der Männer. Nun profitiert England von ihrem Wissen und Können. mehr

Nehmen Sie in der Betonung von Diversität, von Geschlechtergerechtigkeit auch Gegenwind wahr, analog zur Debatte über das Gendern?

Rulofs: Der Gegenwind weht längst nicht mehr so stark wie früher, zumindest nicht offensichtlich. Manchmal frage ich mich, ob diese Stimmen auch nachgelassen haben, weil die Leute es sich nicht mehr trauen, offen anzusprechen, dass sie das Engagement für mehr Chancengleichheit nicht wichtig finden.

Es ist durchaus erlaubt zu fragen, ob wir tatsächlich noch zusätzliche Fördermaßnahmen für Mädchen und Frauen brauchen. Als Wissenschaftlerin sage ich: eindeutig ja. Und das können wir auch mit Studien belegen. Gleichzeitig wird noch zu häufig übersehen, dass es innerhalb der Gruppe der Frauen und auch innerhalb der Gruppe der Männer deutliche Unterschiede gibt. Und wir müssen viel mehr dafür tun, diejenigen jungen Männer zu unterstützen, die das alte Spiel der Hierarchien oder die Überbietungsspirale, die es unter Männern im Sport gibt, nicht mehr mitspielen möchten.

Bei Themen wie Diversität und Chancengleichheit drängt sich häufig der Eindruck auf, dass Deutschland auf Impulse von außen wartet, ehe Veränderungen angeschoben werden.

Rulofs: Tatsächlich sind solche Impulse von außen hilfreich. In den skandinavischen Sportsystemen ist es beispielsweise schon seit vielen Jahren stärker verbreitet, diese Themen mitzudenken. Das zeigt sich auch beim Umgang mit Alltagssexismus oder sexualisierter Belästigung. Da gibt es Länder wie Großbritannien, wo diese Themen im Sport schon vor 25 Jahren angegangen wurden. Dort müssen Sportvereine vorweisen, dass sie sich gegen sexualisierte Gewalt engagieren, um Fördergelder zu bekommen. Da können wir uns durchaus etwas abschauen. 

Sind Angebote ausschließlich für Frauen hilfreich?

Rulofs: In der aktuellen Situation ist das immer noch hilfreich. Das haben wir vor schon vor vielen Jahren bei der Koedukationsdebatte in der Schule gesehen, das heißt bei der Frage: Sollen Mädchen und Jungen gemeinsam Schulsport betreiben? Da war es auch förderlich, dass wir phasenweise getrennt haben, mit dem Ziel, die Mädchen im Sport ganz bewusst zu fördern. Und so ist es auch heute noch in einigen Bereichen des Sports.

Es ist wichtig, dass wir gezielt Zeiten und Räume schaffen, wo wir Sportlerinnen eine Möglichkeit geben, sich auszuprobieren oder zu präsentieren. In den Medien sind Sportlerinnen beispielsweise so stark unterrepräsentiert im Alltagsgeschäft, dass niemand auf sie aufmerksam wird, wenn wir nicht durch konkrete Projekte auch mal Highlights setzen. Ich würde erst dann davon Abstand nehmen, wenn wir ein deutliches Stück weitergekommen sind und auch in den Mainstream-Nachrichten ganz selbstverständlich über Frauen im Sport berichtet wird.

Wie weit würden Sie das Thema Diversität im Sport in der Zukunft fassen?

Rulofs: Der Wettkampf- und Spielbetrieb im Sportsystem geht zurzeit immer noch überwiegend von zwei Geschlechtern aus. Wir werden uns aber darauf einstellen müssen, dass mittel- und langfristig deutlich mehr Personen an den Pforten der Sportvereine stehen werden, die sich selber als nicht-binär, als weder Frau noch Mann oder als Transgender bezeichnen. Und es gibt noch deutlich zu wenig Ideen, wie wir damit umgehen, wie wir diese Unterscheidung von Frau und Mann im Sport unwichtig werden lassen.

Geht das in Richtung einer Vision von einem offenen Sport, in dem sich alle miteinander messen können?

Rulofs: Das würde an den Grundfesten des sportlichen Wettkampfs rütteln. Aber ich denke schon, dass wir in manchen Sportarten kreativer sein und uns fragen sollten: Könnten wir nicht mehr Wettkämpfe anbieten, wo die Unterscheidung nach Geschlecht gar keine Rolle spielt?

Im Spitzensport stößt eine solche Vorstellung sicherlich an Grenzen.

Rulofs: Ja, gerade bei Sportarten, wo die hormonelle Situation der Körper eine Rolle spielt, ist das nicht so leicht aufzulösen. Aber Hormone bestimmen ja nicht allein, wie leistungsfähig ein Mensch ist. Vielleicht sollten wir in manchen Sportarten mal ausprobieren, wie es ist, wenn wir die Menschen nach Größe sortieren oder nach Gewichtsklassen oder nach der Größe der Extremitäten. Vielleicht müssen wir den Sport hier und da neu denken, jenseits von Geschlechter-Sortierung.

Das Interview führte Ines Bellinger

Weitere Informationen
Springreiterin Janne Friederike Meyer-Zimmermann mit Chesmu © IMAGO / Bildbyran

Reiterinnen von Regeln ausgebremst: "Die Babys kriegen nun mal die Frauen"

Mit der Initiative "EqualEquest" kämpfen Janne Friederike Meyer-Zimmermann und ihre Mitstreiterinnen gegen die Benachteiligung von Müttern im Reitsport. mehr

Angreiferin Svenja Huth vom VfL Wolfsburg © picture alliance/Stuart Franklin/Getty Images Europe/Pool/dpa

Jolyn Beer und Svenja Huth leben Vielfalt - im Sport und privat

Für die Schützin und die Fußball-Nationalspielerin ist Diversität nicht nur ein Schlagwort. Beide Sportlerinnen leben offen queer. mehr

Boxerin Dilar Kisikyol © IMAGO / Torsten Helmke

Dilar Kisikyol: Liebe zum Boxsport und Kampf für soziale Gerechtigkeit

Die Wahl-Hamburgerin kämpft nicht nur im Ring, sondern auch für soziale Gerechtigkeit und Vielfalt im Sport. Ihre Geschichte ist der Auftakt einer Serie über Diversität im Sport bei NDR.de. mehr

Dieses Thema im Programm:

Sportclub | 29.05.2022 | 22:30 Uhr

Mehr Sport-Meldungen

Filip Jicha, Trainer des THW Kiel © IMAGO / Jan Huebner

CL: Final Four in großer Gefahr - THW Kiel verliert klar in Montpellier

Der deutsche Handball-Rekordmeister THW Kiel musste sich im Viertelfinal-Hinspiel bei Montpellier HB mit 30:39 geschlagen geben. mehr