Die Beachvolleyballerin 	Karla Borger © Witters Foto: Valeria Witters

"Bitter notwendig" - Beratungsstelle für Gewalt im Spitzensport eröffnet

Stand: 16.05.2022 15:05 Uhr

Über eine Hotline oder per Mail können sich von Gewalt betroffene Spitzensportler*innen künftig unabhängig beraten lassen. Die Anlaufstelle ist eine Initiative des Vereins "Athleten Deutschland" - soll aber nur ein Anfang sein.

von Anne Armbrecht und Hendrik Maaßen

"Wir sind total froh, dass es jetzt endlich losgehen kann, weil es bitter notwendig ist", sagt die Präsidentin von "Athleten Deutschland", die Beachvolleyballerin Karla Borger, im Gespräch mit dem NDR. Die Stelle solle nun Betroffene professionell unterstützen und ihnen auch zeigen, "dass sie nicht alleine sind".

Kadersportler*innen, die von Gewalt oder Missbrauch betroffen sind, können sich seit heute im deutschen Sport an eine unabhängige Beratungsstelle wenden. "Anlauf gegen Gewalt" heißt das Projekt, das von der Athletenvertretung Athleten Deutschland ins Leben gerufen wurde.

Auch Stelle für Breitensport soll kommen

Das Angebot richtet sich zunächst explizit an aktuelle und ehemalige Kaderathlet*innen, die körperliche, psychische oder sexualisierte Gewalt im Sport erfahren oder erfahren haben. Eine Stelle für den Breitensport soll es zu einem späteren Zeitpunkt geben. "Wir werden aber bei der telefonischen Erstberatung niemanden abweisen", sagt Borger.

Erstberatung kostenfrei und anonym

Betroffene können sich zunächst auf zwei Wegen an die Beratung wenden. Mit Geld von zwei Stiftungen hat der Verein eine Telefon-Hotline freigeschaltet. Die Nummer ist montags und donnerstags für je drei Stunden erreichbar. Dazu kann die Anlaufstelle auch per Mail erreicht werden. Die Erstberatung ist kostenfrei und anonym. Bei Bedarf soll für weitere Unterstützung an ein Netzwerk aus Psychotherapeuten und auch Anwälten weitervermittelt werden.

So erreiche ich die Beratungsstelle "Anlauf gegen Gewalt"

Öffnungzeiten: montags 11 - 14 Uhr und donnerstags 16 - 19 Uhr
Telefonnummer: 0800 90 90 444
E-Mail: kontakt@anlauf-gegen-gewalt.org
Weitere Informationen: anlauf-gegen-gewalt.org

Unabhängigkeit soll Vertrauen stärken

Die Angebote würden von Personen betreut, die auch "die Dynamiken des Spitzensports kennen", so Borger. Dazu zählen unter anderem der besondere Leistungsdruck und die speziellen Abhängigkeitsverhältnisse etwa zwischen Sportlern und Trainern, aber auch Interessenskonflikte innerhalb von Vereins- und Verbandsstrukturen.

Die machten in der Vergangenheit allzu oft Missbrauch überhaupt erst möglich und auch eine Aufklärung von Fällen schwierig - weshalb "Athleten Deutschland" nun auch die Unabhängigkeit der neuen Stelle als besonders wichtig erachtet. "Wir wissen von Betroffenen, dass sie zögern, sich an verbandsinterne Stellen zu wenden", sagt Borger. "Deswegen ist eine unabhängige Stelle so wichtig, wo man das Vertrauen hat, sich äußern zu können."

Mehrheit der Kadersportler berichtet von Gewalterfahrungen

Wie groß der Handlungsbedarf wohl ist, zeigte für den deutschen Sport bereits 2016 eine Untersuchung. In einer Befragung mit über 1.500 Kaderathlet*innen gaben damals etwa ein Drittel der Befragten an, dass sie sexualisierte Gewalt im Kontext des Sports erlebt hätten - eine*r von neun sogar schwere und/oder länger andauernde sexualisierte Gewalt. Körperlicher Gewalt sahen sich etwa 30 Prozent der Befragten ausgesetzt, psychischer Gewalt sogar 86 Prozent.

Ob im Tennis, im Boxen, Schwimmsport oder Handball: In der Vergangenheit berichteten Betroffene aus verschiedensten Sportarten immer wieder, dass ihnen nicht geglaubt und Hinweisen nicht konsequent nachgegangen, Täter nicht angemessen bestraft oder die Betroffenen selbst sogar eingeschüchtert wurden. Zuletzt zeigte sich das zum Beispiel im Fall eines erfolgreichen Tennistrainers aus dem Hamburger Umland, der trotz Vorwürfen sexueller Übergriffe über Jahrzehnte immer weiter beschäftigt wurde.

"Zentrum für Safe Sport" als nächster Schritt

Mittelfristig soll in solchen Fällen auch im Breitensport das sogenannte "Zentrum für Safe Sport" mit noch mehr Befugnissen Abhilfe schaffen. Eine vom organisierten Sport unabhängige Institution könnte nicht nur Betroffene beraten, sondern - so der Wunsch von "Athleten Deutschland" - dann auch Untersuchungen einleiten und Sanktionen verhängen, Aufklärungsarbeit leisten und Schutzmaßnahmen kontrollieren. "Das muss der nächste Schritt sein", sagt Borger.

Das Zentrum könnte dann zum Beispiel einen Trainer sperren, wenn dieser wiederholt übergriffig wurde, aber im Verein nie jemand durchgriff, weil er sportlich erfolgreich war oder strafrechtlich - etwa wegen Verjährung oder juristisch zu geringer Beweislast - nicht verurteilt werden konnte. Vorbilder für ein solches Zentrum gibt es bereits in anderen Ländern, wie den USA und der Schweiz.

Das Konzept des Zentrums hatte "Athleten Deutschland" erstmals im Oktober 2020 und später auch im Sportausschuss des Bundestags vorgestellt. Die neue Bundesregierung hat das Vorhaben auch mit in den Koalitionsvertrag aufgenommen. EineMachbarkeitsstudie im Auftrag des Bundesinnenministeriums stützte den Vorschlag Anfang des Jahres. Einen konkreten Zeitplan gibt es für die Einrichtung allerdings nicht.

Dieses Thema im Programm:

Sport aktuell | 16.05.2022 | 13:25 Uhr

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