125 Jahre Eintracht Braunschweig: Die "Löwen" im Wandel der Zeit
Eintracht Braunschweig ist am 15. Dezember 125 Jahre alt geworden. Dass die große Feier Corona-bedingt ins nächste Jahr verschoben werden musste, ist nur ein dünnes Kapitel in der Historie des stolzen deutschen Meisters von 1967.
Am 3. Juni 1967, kurz vor 17 Uhr, erreicht ein Wagen mit DFB-Präsident Dr. Hermann Gösmann das Eintracht-Stadion an der Hamburger Straße. Der 59-Jährige gelangt in den Innenraum, erlebt eine brodelnde Arena unter sommerlicher Nachmittagssonne und noch zwei Braunschweiger Tore in den letzten Minuten. 4:1 schlagen die "Löwen" den 1. FC Nürnberg, das Publikum stürmt den Platz. Nur mit Mühe dringt Gösmann mit der Meisterschale zur siegreichen Mannschaft vor, nennt am Mikro den falschen Vereinsnamen ("SV Eintracht" statt BTSV) und spricht Kapitän Joachim Bäse mit dem Namen des HSV-Spielers Bähre an.
Legendär ist nicht nur das, sondern diese ganze verrückte Saison 1966/1967. Die Provinzstadt an der Oker, gelegen im damaligen Zonenrandgebiet und weitab jeglichen Glamours, ist mit einem Schlag international prominent.
Dafür sorgen der nüchterne Hamburger Trainer Helmuth Johannsen und ein Mini-Kader, der mit seiner Beton-Abwehr um Bäse nur 27 Gegentore zulässt und wohl zwei Rekorde für die Ewigkeit aufstellt: Nie zuvor und nie danach ist ein Team mit so wenig Toren (49) und Punkten (43) deutscher Meister geworden. Eine "Elf der Namenlosen", in der bislang allein der überragende Mittelfeldtechniker Lothar Ulsaß hin und wieder mal von Bundestrainer Helmut Schön eingeladen wird und die allenfalls durch Einsilbigkeit besticht: Moll, Dulz, Grzyb, Maas, Kaak, Schmidt - und in Reserve gibt es noch einen Matz.
Meisterschaft '67 Fluch und Segen zugleich
Der Titel ist aber Fluch und Segen zugleich. Bis heute ist der Ruhm der Johannsen-Truppe in der Stadt allgegenwärtig. Etliche Generationen müssen sich allerdings daran messen lassen, nur wenige können mithalten.
Jene, die Mitte der Siebziger auf dem Platz stehen, noch am ehesten. Von 1974 bis 1977 hat der charismatische Branko Zebec ein Team beieinander, das auch von der individuellen Klasse her internationalen Maßstäben genügt: mit Größen wie Bernd Gersdorff und dem flinken jugoslawischen National-Rechtsaußen Danilo Popivoda. ‘77 klappt es beinahe, am Ende liegt Meister Borussia Mönchengladbach gerade mal einen Punkt vor den starken Niedersachsen. Bernd Franke, Nationaltorwart Nummer zwei hinter Sepp Maier, ärgert sich noch heute: "Wir haben es damals vergeigt."
Der Bundesliga-Skandal wirkt nach
Vier Jahre zuvor steigt die Eintracht zum ersten Mal aus der Bundesliga ab. Der Bundesliga-Skandal von 1971 wirkt noch nach. Das Team um Lothar Ulsaß und Max Lorenz kassiert eine 40.000-Mark-Prämie von Arminia Bielefeld - nicht fürs Verlieren, sondern quasi als Leistungsanreiz im letzten Saisonspiel gegen Oberhausen (1:1). Gersdorff, der damals "in Achim Bäses Spargelrestaurant" wie alle anderen seinen Anteil von 2.200 Mark einstreicht, sagt: "Wir hatten keinerlei Schuldbewusstsein." Ulsaß und Lorenz, als Drahtzieher auf Braunschweiger Seite, werden gesperrt und spielen nie wieder in der Bundesliga.
Mast sorgt mit der Eintracht für Schlagzeilen
In den 1970er-Jahren Zeit lässt sich auch Vereinsboss Ernst "Balduin" Fricke wegen finanzieller Zwänge auf die Ideen des Wolfenbütteler Schnapsfabrikanten Günter Mast ein. Der Club tauscht sein Löwen-Emblem gegen den Hubertus-Hirsch von Masts Jägermeister und führt so, quasi durch die Hintertür, die Trikotwerbung im deutschen Profifußball ein.
1977 der nächste "Coup": Mast holt den schillernden Weltklasse-Mittelfeldspieler Paul Breitner von Real Madrid an die Oker - ein Experiment, dessen Scheitern programmiert ist. Der löwenmähnige Star kommt in dem vom Teamgeist lebenden Kader nie an.
Ein schwerer Rucksack glorreicher Tradition
Der nächste Abstieg folgt 1980. Noch einmal kehrt die Eintracht schnell zurück. Vom Knock-out 1985 erholt sich der Club dann aber nicht mehr. Zumal Jägermeister-Mast, der in der Zwischenzeit den Vereinsvorsitz übernommen hat, dem Verein auf einmal einen harten Sparkurs verordnet. Laut "Spiegel" wirbt er auch einen "hohen Polizeioffizier" an, der verhindern soll, dass während des Spiels Zuschauer die Zäune überwinden und gratis zugucken.
Mit dem Ende der Ära Jägermeister 1986 verliert die Eintracht ihren Platz als feste Größe im deutschen Spitzenfußball. Es bleibt ein großer Name und ein schwerer Rucksack glorreicher Tradition.
Braunschweig als Ursprungsort des deutschen Fußballs
Und die hätte eigentlich noch weiter zurückreichen müssen als bis 1895, als ein paar jung-bürgerliche Enthusiasten den Club in der elterlichen Wohnung des Schülers Karl Schaper gründen. Schließlich ist Braunschweig der Ursprungsort des Fußballsports in Deutschland: 1874 hatte der Lehrer Dr. phil. Konrad Koch vom Martino-Katharineum den ersten Kick im Reich organisiert.
Bis zur Vereinsgründung dauert es allerdings noch 25 Jahre. Und laut der Vereinschronik "125 Jahre Eintracht Braunschweig" lässt es der Fußball und Cricket Club (F.u.C.C.) Eintracht auch erst einmal ruhig mit sechs Gesellschaftsspielen im Jahr 1896 angehen. Doch spätestens 1900, mit einem 11:1-Sieg im ersten Derby mit dem künftigen Dauerrivalen Hannover 96, wird der Verein als Fußball-Schwergewicht wahrgenommen. 1908 und 1915 gewinnt er die norddeutsche Meisterschaft. Acht Jahre später ziehen die Braunschweiger an die Hamburger Straße um - gekickt wird auf einem ehemaligen Spargelfeld.
Besondere Nähe zum Naziregime
Der Wiederbeginn nach dem Krieg gestaltet sich schwierig, weil die britischen Besatzungsbehörden nicht gut zu sprechen waren auf den Verein, der mittlerweile als SV Eintracht firmiert und zuvor eine besondere Nähe zum Naziregime gehabt hatte. Diese äußert sich zum Beispiel darin, das die Clubführung der NSDAP schon 1932, vor deren Machtübernahme, ihr Stadion gern für Wahlkampfveranstaltungen mit Hitler und Göring zur Verfügung stellt. Bis zur Neugründung 1949 müssen sich die Eintracht-Kicker erst einmal dem TSV, einem wieder zugelassenen Ex-Arbeiterverein, anschließen.
Auf dem Spielfeld hingegen haben sie keine Probleme, sich wieder in der norddeutschen Fußball-Elite einzureihen. Abgesehen von einem Skandälchen 1952, als der Einsatz dreier nicht spielberechtiger Neuzugänge aus der Ostzone einen Zwangsabstieg zur Folge hat, hält sich der BTSV Eintracht beständig in der höchsten Spielklasse, der Oberliga. Feste Größen sind der aus dem Rheinland gekommene Torwart-Schlacks Hennes Jäcker und Eintrachts Alltime-Rekordtorschütze Werner Thamm (116 Tore in 295 Spielen zwischen 1950 und 1961).
Als Gründungsmitglied in der Bundesliga dabei
Mit Glück und blendenden Beziehungen zu Bundestrainer Sepp Herberger gelingt dem Verein mit seinem Präsidenten Dr. Kurt Holpert 1963 ein Überraschungs-Streich: Er erhält den begehrten dritten Nord-Startplatz in der neugegründeten Bundesliga. Der DFB hat schnell die Zugangsregeln geändert - nach dem ursprünglichen Qualifikationsplan mit kompliziertem Punktesystem hätten der VfL Osnabrück, der FC St. Pauli und auch Rivale Hannover 96 den Vortritt gehabt.
Bewegte Jahre am Rande des öffentlichen Interesses
Große Trainerpersönlichkeiten prägen die Eintracht in den folgenden Jahren: Helmut Johannsen (1963 - 1970), Taktik-Fuchs Branko Zebec (1974 - 1978) und auch Torsten Lieberknecht (2008 - 2018) erlangen Kult-Status. Aus schwierigen Zeiten nach dem Bundesliga-Abstieg 1985 mit 28 Jahren am Rande des öffentlichen Interesses blieben teure Fehleinkäufe wie der russische Altstar Igor Belanow und Publikumslieblinge wie der blondmähnige Stürmerrebell Bernd Buchheister, Spitzname "Bacardi", der mit Toren begeisterte und durch einen wenig professionellen Lebensstil regelmäßig aneckte.
Auch zwei Todesfälle hinterlassen tiefe Spuren in der Eintracht-Historie. Am 13. Februar 1949 prallt Torwart Gustav Fähland mit dem Bremer Stürmer Robert "Zapf" Gebhard zusammen und erleidet einen Leberriss, dem er eine Woche später erliegt. Bei der Totenfeier säumen seine Teamkameraden in gelb-blauer Spieltracht den Sarg. Sehr viel später, 1983, kommt es zu dem rätselhaften Unfalltod des aus der DDR geflohenen Mittelfeldspielers Lutz Eigendorf, der womöglich von der Stasi arrangiert wurde.
Bundesliga-Rückkehr unter Lieberknecht und Arnold
In alte Höhen führt die Eintracht schließlich Lieberknecht. Der Ex-Profi mit Witz, Temperament und Bodenhaftung wird 2008 im Saisonendspurt Cheftrainer und sichert in letzter Minute die so wichtige Qualifikation zur neu gegründeten Dritten Liga. Mit Manager Marc Arnold bildet er ein Dreamteam, sieht sich aber gleich wieder mit wüsten Erwartungen konfrontiert: Nach gerade mal drei der vergangenen 15 Spielzeiten im bezahlten Fußball war die Eintracht "im Selbstverständnis der Leute ein gefühlter Bundesligist. Wir mussten erstmal in die Köpfe der Leute."
In die Amtszeit von Lieberknecht und Arnold fallen der Aufstieg in die Erste Liga 2014 genauso wie der bittere Weg zurück in die Dritte Liga 2018, der auch den Abschied von Rekordtrainer Lieberknecht bringt.
Geburtstagparty soll am 1. Juli 2021 nachgeholt werden
Rechtzeitig zum 125-Jahres-Jubiläum hat der Club im vergangenen Sommer die Rückkehr in die Zweite Liga geschafft - dank eines überragenden Laufs nach der Corona-Zwangspause unter Trainer Marco Antwerpen. Nur fünf Tage später gibt die Eintracht bekannt, den Vertrag mit dem Aufstiegstrainer nicht zu verlängern.
Doch nicht nur die große Feier nach der Rückkehr in die Zweite Liga fiel aus. Auch die Sause des Vereins zum Geburtstag wurde wegen der Corona-Pandemie bereits Anfang September auf den 1. Juli 2021 verschoben. "Das ist natürlich unendlich schade, denn den 125. Geburtstag gibt es nur einmal", sagte Christoph Bratmann, damals noch interimsweise Vereins-Präsident. Am Ende der Jubiläumssaison soll dann "ausgelassen gefeiert" und der bewegten Club-Historie noch einmal gedacht werden.
