Stand: 13.11.2017 13:00 Uhr

Nachgefragt: Andrew Manze

Andrew Manze, Chefdirigent der NDR Radiophilharmonie © NDR / Michael Neugebauer Foto: Michael Neugebauer
Andrew Manze ist seit 2014 Chefdirigent der NDR Radiophilharmonie in Hannover. In seinem Video-Blog "Manze on Music" vermittelt er musikalische Inhalte auch abseits des Konzertpodiums.

Beim NDR ist er seit Jahren eine feste Größe und doch wartet noch ein Debüt auf ihn: Andrew Manze, Chefdirigent der NDR Radiophilharmonie, dirigiert Mitte November zum ersten Mal das NDR Elbphilharmonie Orchester - und erstmals auch in der Elbphilharmonie. Julius Heile hat ihn gesprochen.

Herr Manze, seit 2014 sind Sie Chefdirigent der NDR Radiophilharmonie. Nun werden Sie erstmals auch am Pult des NDR Elbphilharmonie Orchesters stehen und in der Elbphilharmonie auftreten. Was erwarten Sie?

Andrew Manze: Ich kenne bereits die ausgezeichneten Musiker des NDR Chors und meine lieben Freunde von der NDR Radiophilharmonie. Daher freue ich mich nun sehr auf meine erste Begegnung mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester und darauf, den Charakter und Klang der Elbphilharmonie zu "fühlen".

Für dieses Debüt haben Sie sich für ein rein britisches Programm entschieden. Fühlen Sie sich als Engländer dieser Musik besonders verbunden?

Manze: Auch wenn ich in England geboren und aufgewachsen bin, fühle ich mich nicht besonders englisch, und ich habe kein englisches Blut in meinen Adern. Ich dirigiere dieses Repertoire, weil ich der Meinung bin, dass es großartige Musik ist, nicht weil es englische Musik ist.

… und damit zeigen Sie zugleich, dass England eben kein "Land ohne Musik" ist, wie es von den Deutschen lange Zeit eingeschätzt wurde.

Manze: Mit Blick auf das 19. Jahrhundert war es zu 99 Prozent richtig, England als "Land ohne Musik" zu bezeichnen. Aber die Epochen der Renaissance und des Barock waren ausgesprochen reiche Zeiten der englischen Musikgeschichte und - darf ich das sagen? - das 20. Jahrhundert war wohl in Großbritannien musikalisch genauso vielgestaltig und interessant wie in Deutschland (oder sogar noch mehr!). Mein Ziel ist es nicht, irgendwen eines Besseren zu belehren, sondern einfach meine Neugier in Bezug auf weniger bekannte und lohnenswerte Musik zu teilen.

Video-Blog
Andrew Manze © NDR

Manze on Music: Beethovens 4. Klavierkonzert

In seinem Video-Blog stellt Andrew Manze einzelne Kompositionen und die Geschichten hinter den weltbekannten Stücken vor. Im aktuellen Blog: Beethovens Entwicklung zum "Künstler-Helden". mehr

Von dem ersten Stück des Programms Purcells "Music for the Funeral of Queen Mary" waren die Zeitgenossen aufgrund der Schlichtheit tief gerührt. Können wir das heute noch nachempfinden?

Manze: Wie bei den meisten Stücken der vorklassischen Epoche sind die Noten auf dem Papier sehr sparsam und einfach gesetzt, weil die Komponisten erwarteten, dass die Ausführenden ihnen auf halbem Wege entgegenkamen und die Lücken sozusagen füllten. Das ist wie wenn ein barocker Maler ein Gesicht porträtiert: Alles ist da, Nase, Augen, Ohren, aber was zählt, ist der Ausdruck des Gesichts und das Gefühl, das es im Betrachter hervorruft. Auch wenn wir Menschen des 21. Jahrhunderts mit unseren Smartphones und interkontinentalen Reisemöglichkeiten oft zeitlich sehr weit weg sind von der Musik, die wir hören, glaube ich dennoch, dass die menschlichen Emotionen sich seit Purcells Tagen nicht sehr viel weiter entwickelt haben.

Das zweite Stück des Konzerts, William Waltons Cellokonzert, wird sehr viel seltener gespielt als beispielsweise Elgars Cellokonzert. Haben Sie eine Erklärung dafür?

Manze: Ich treffe immer wieder Cellisten, die Waltons Konzert genauso hoch einschätzen wie Elgars. Elgars Cellokonzert ist das (fast) letzte Werk eines alten Mannes, ein Ausdruck seiner Zeit (1919) mit einer "Geschichte" dahinter, die heute immer noch stark wirkt. Waltons Konzert erzählt uns weniger eine Geschichte, sondern es ist eher so etwas wie ein Porträt des inneren Wesens eines Cellisten.

Der dritte Komponist des Programms, Ralph Vaughan Williams, scheint Ihnen sehr am Herzen zu liegen. So arbeiten Sie derzeit etwa an einer Gesamtaufnahme seiner Sinfonien mit dem Royal Liverpool Philharmonic Orchestra. Nun präsentieren Sie Vaughan Williams' "London Symphony" in Hamburg. Was fasziniert Sie an diesem Komponisten im Allgemeinen und an der "London Symphony" im Besonderen?

Manze: Vaughan Williams hat Musik geschrieben, die für Jedermann unmittelbar zugänglich ist. Als Kind fand ich sie unterhaltsam, heute finde ich sie herausfordernd und zum Nachdenken anregend. Die "London Symphony" reicht in ihrem Ausdruck von naiven Effekten (wie den Rufen der Straßenverkäufer, der Nachahmung einer Taxi-Droschke oder einer Mundharmonika etc.) bis hin zu einer tief empfundenen, philosophischen Weltsicht, in der London zur Metapher für das moderne Leben wird. Schauen Sie sich die London-Gemälde von James McNeill Whistler an und Sie werden ein visuelles Gegenstück zu Vaughan Willams' Musik sehen. 

Das Gespräch führte Julius Heile.

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