Ehrenamtliche Richter: Deswegen gibt es Schöffen bei Gericht

Stand: 14.01.2023 06:00 Uhr

Vor Gericht über Schuld und Unschuld entscheiden, am Ende das Strafmaß festlegen - ohne Jurist zu sein: Das ist das, was Schöffen an Amts- und Landgerichten tun, gemeinsam mit Berufsrichtern. Dieses Jahr werden die Laienrichter neu gewählt.

von Julia Schumacher

Vor ihrer ersten Gerichtsverhandlung als Schöffin am Landgericht Norderstedt gingen Petra Pinnow viele Fragen durch den Kopf: "Ich soll über einen Menschen entscheiden, ob der eine Bewährung bekommt oder ins Gefängnis muss - und vielleicht war er es gar nicht?" - "Muss ich den Eid, den ich schwören muss, auswendig können?" - "Was ziehe ich als Schöffin vor Gericht an?" Heute ist sie in diesen Dingen erfahren. Sie ist bereits in ihrer zweiten Amtszeit als Schöffin.

Schöffen entscheiden "im Namen des Volkes"

"Das Schöffenamt ist das höchste Ehrenamt, das wir in Deutschland haben," sagt Pinnow, die auch Vorsitzende der Deutsche Vereinigung der Schöffinnen und Schöffen Nord ist. Es steht sogar im Grundgesetz, Artikel 20, Absatz 2.

Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt. Grundgesetz, Artikel 20, Absatz 2

Diese Rolle übernehmen stellvertretend für das Volk auch die Schöffen - im Namen des Volkes. "Darum geht es beim Schöffenamt, dass die Stimme des Volkes wirklich Anteil an der Rechtssprechung nimmt und wir als Schöffen aus dem Leben berichten können, wie es gerade ist", sagt Schöffin Pinnow. In ihrem Leben außerhalb des Schöffenamts ist sie Paartherapeutin.

Petra Pinnow, Schöffin am Landgericht Kiel. © NDR
Schöffin Petra Pinnow ist überzeugt davon, dass das Schöffenamt die Demokratie durch die vielen Perspektiven der ehrenamtlichen Richter stärkt.

"Ein Schöffengericht sollte ein Spiegelbild der Gesellschaft sein," sagt Richterin Antje Renner, Vorsitzende des Jugendschöffengerichts in Kiel. "Es soll möglichst divers und mit einer Bandbreite an Berufen sein." Als Jurist sei man manchmal in seinem Denken gefangen. "Und wir entscheiden über Menschen. Da geht es nicht um reine Gesetzesanwendung." Über die Schöffinnen und Schöffen komme eine weitere, wichtige Perspektive hinzu, so Renner.

Knapp 5.000 Vorschläge für Schöffenwahl 2023 gesucht

Ehrenamtliche Richter werden für eine Periode von fünf Jahren gewählt, die aktuelle endet mit Ablauf dieses Jahres. Deswegen muss neu gewählt werden. Das Verfahren dauert, mit einem Ergebnis ist erst im November zu rechnen. Momentan sind in den Gerichten in Schleswig-Holstein 1.212 Haupt- und 1.256 Ersatzschöffen im Amt.

Jede Gemeindevertretung stellt eine Vorschlagsliste auf, auf der doppelt so viele Namen stehen müssen, wie in dieser Gemeinde Schöffen und Schöffinnen für den Gerichtsbezirk benötigt werden. Für Schleswig-Holstein werden also knapp 5.000 Vorschläge gebraucht. Bürgerinnen und Bürger zwischen 25 und 69 Jahren können sich entweder bewerben oder von einer gesellschaftlichen Organisation vorschlagen lassen. Sie brauchen keine juristischen Vorkenntnisse, Volljuristen sind ausgeschlossen. Weitere Informationen zur Schöffenwahl 2023 gibt es auf der Webseite des Bundesverbands ehrenamtlicher Richterinnen und Richter.

Gesunder Menschenverstand und Empathie

Michael Theiß, Schöffe am Landgericht Kiel. © NDR
Michael Theiß, Schöffe am Landgericht Kiel, hat bei den Verhandlungen viel über Rechtsstaat, andere Menschen und auch Fachthemen gelernt.

Der Einfluss und die Verantwortung von Schöffen und Schöffinnen ist groß: Sie entscheiden gemeinsam mit den Berufsrichtern über Anklage und Strafmaß. Dabei zählen die Stimmen der Berufsrichter und der ehrenamtlichen Richter gleich viel. "Man hat eine große Verantwortung, weil man mitentscheidet, ob ein Angeklagter eine Freiheitsstrafe oder eine Geldstrafe bekommt oder in eine geschlossene Abteilung muss", erzählt Michael Theiß, Schöffe am Landgericht Kiel. "Man nimmt das auch mit nach Hause. Mir ging das jedenfalls so, dass ich nachts darüber nachgegrübelt habe: 'Was machst du nur mit dem?'" Für die Entscheidung sei es wichtig, dass man den Prozess und die Beteiligten erlebt, den gesunden Menschenverstand einsetzt und Empathie mitbringt.

Bei den Verhandlungen, in denen Schöffen und Schöffinnen eingesetzt werden, geht es um mittlere bis schwere Kriminalfälle: Kapitaldelikte, Mord und Totschlag sowie Missbrauch. Dabei können auch komplizierte Fachthemen eine Rolle spielen. Schöffin Pinnow erinnert sich an einen Fall, bei dem es um Encrochat-Betrugsfälle ging. "Da hat man als Schöffe keine Ahnung von der Materie. Man hört die Verhandlung und muss verstehen, was da passiert", erzählt sie. Einblick in die Akten bekommen Schöffen nicht. Es sei Aufgabe der Staatsanwaltschaft und des Richters, den Fall so zu erklären, dass der Schöffe ihn versteht. Außerdem können Schöffen in der Verhandlung Fragen stellen, auch den Zeugen.

Von der Decken: "Alles spiegelt sich in den Gerichten wieder"

"Wir möchten ganz bewusst von unserem Rechtsstaat aus die Bevölkerung mit in die Urteilsfindung nehmen", sagt Justizministerin Kerstin von der Decken (CDU). Wie wichtig ehrenamtliche Richter seien, zeigten auch immer aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen: "Alles spiegelt sich irgendwann in den Gerichten wieder. Deswegen brauchen wir engagierte Menschen, die bereit sind, bei diesen gesellschaftlichen Herausforderungen mitzumachen." Wie erfüllend das sein kann, beweist Petra Pinnow: Sie will sich ein drittes mal bewerben.

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Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Welle Nord | Nachrichten für Schleswig-Holstein | 14.01.2023 | 06:00 Uhr

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