"Demokratie ist derzeit die einzige sinnvolle Gesellschaftsform"
Die Politikwissenschaftlerin Susanne Pickel von der Universität Duisburg untersucht demokratische Strömungen und hat unter anderem auch viele Jahre an der Universität Greifswald geforscht. Sie hat beobachtet, dass in Zeiten multipler Krisen die demokratische Gesellschaft aktiver wird.
Ist der Tag der Deutschen Einheit wirklich ein Symbol gelebter Demokratie? Der heutige Montag ist nicht nur ein Feiertag. Er ist seit vielen Jahren für zahlreiche Menschen ein fester Termin geworden, um Demokratie leben zu wollen: Die "Montagsdemos". Könnte man dieses Wort statt mit Montagsdemonstrationen aus Ihrer Sicht auch mit "Montagsdemokratie" beschreiben?
Susanne Pickel: "Im Wesentlichen ja. Diese Montagsdemonstrationen haben dafür gesorgt, dass es die Deutsche Einheit überhaupt gibt. Sie haben losgetreten, dass es zu einer friedlichen Revolution kommen konnte. Zu der ersten und einzigen, die wirklich erfolgreich war in Deutschland in der jüngeren Geschichte. Und es ist ein Grundprinzip der Demokratie, dass Menschen für ihre Anliegen werben dürfen. Demonstrationen sind nichts anderes als eine Werbeveranstaltung für bestimmte Interessen von Bürgern und Bürgerinnen. Die dafür auf die Straße gehen und bekunden, dass sie dieses Interesse haben und nach Gehör verlangen."
Nun erleben wir gerade, dass vor allem die bürgerliche Mittelschicht auf die Straße geht. Aus Angst, zum Beispiel die einfachsten Kosten des täglichen Lebens nicht mehr bezahlen zu können. Die Menschen fordern Veränderungen. Was passiert aus Ihrer Sicht gerade in einer demokratischen Gesellschaft?
Pickel: "Es passiert, dass die demokratische Gesellschaft aktiver wird. Das hat sehr viel zu tun mit der Globalisierung von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur. Und das trifft nun gesellschaftliche Schichten, die sich selbst als Zugehörige der Mittelschicht beschreiben würden und jetzt von Angst ergriffen werden. Wie kann ich meinen Wohlstand aufrechterhalten angesichts multipler Krisen? Klimakrise, Krieg, Energiekrise führen zu existenziellen Sorgen. Dann ist es ja verständlich, dass Menschen auf die Straße gehen und sich darüber beschweren, dass sie alleine gelassen werden bei der Suche nach Lösungen, wie sie mit diesen Krisen klarkommen sollen."
Viele Bürgerinnen und Bürger sind unzufrieden mit der Politik, mit den Medien und mit den Lebensumständen, in denen sie sich privat und beruflich befinden. Inwiefern verändert diese Unzufriedenheit auch die Demokratie?
Pickel: "Die Unzufriedenheit verändert die Demokratie in zwei Ansätzen: Der erste ist, dass wir mit der AfD eine Partei haben, die ein Angebot macht für diese Menschen. Sie würde sich der Ängste, Sorgen und Nöte der Bürger annehmen, mit den Bürgern auf die Straße gehen und ihnen das Gefühl geben, sie würden stärker gehört als bei den anderen Parteien. Aber das ist durch die Bank weg in der Regel nicht so. Nach meinen Beobachtungen nehmen AfD-Abgeordnete am seltensten an Parlamentssitzungen teil, haben die höchsten Ausfallzeiten. Die AfD verändert die Demokratie durch den Habitus, durch ihre Forderungen, durch die Grundlage, wie sie über Politik spricht und was ihre Anliegen sind und was sie unter Demokratie versteht."
… und der zweite Punkt?
Pickel: "Unzufriedenheit an sich verändert Demokratie, in dem Menschen aktiv werden und in dem Menschen Demokratievorstellungen entwickeln, die teilweise nicht mit dem übereinstimmen, wie wir auch anhand des Grundgesetzes Demokratie definieren, wie wir Demokratie leben wollen. Es gibt manche Demonstranten, die die Demokratie sehr stark verändern wollen als Minimalprogramm, wenn nicht sogar abschaffen."
Wie verfolgen Sie denn die Proteste hier in Mecklenburg-Vorpommern?
Pickel: "Ich bin seit 2019 weg aus Mecklenburg-Vorpommern, beobachte das aber immer noch. In Mecklenburg-Vorpommern leben gut 1,6 Millionen Einwohner und 0,65 Prozent von ihnen gehen auf die Straße. Diese Menge würde niemals ausreichen, um so etwas wie einen Umsturz herbeizuführen. Aber die Menge reicht aus, um wahrgenommen zu werden, um ihre Anliegen vorzubringen, um auch Gehör zu finden."
Welche Rolle spielen die sozialen Netzwerke in der Demokratie?
Pickel: "Die sozialen Medien spielen eine ganz große Rolle. Dort wird geworben, sich an Demonstrationen zu beteiligen. In sozialen Medien verbreiten sich Informationen zu bestimmten Fakten und Situationen. Das eigentliche Problem daran ist, das manche Menschen das wie in einer Blase wahrnehmen. Sie nutzen keine alternativen Medien mehr, sondern nur das, was in ihren sozialen Kreisen diskutiert und berichtet wird. Oft ist nicht klar, wer die Information einspeist und noch weniger, wo diese Informationen herkommen. Das führt dazu, dass auch Verschwörungstheorien in diesen Blasen diskutiert werden. Und so fällt es durch soziale Medien einfach leicht, bestimmte Ängste zu triggern, bestimmte einfache Lösungen vorzuschlagen und dafür zu werben, Menschen dafür zu gewinnen, wenn man sich in dem Umfeld bewegt."
Wie verändert die Ablehnung von Medien wie Zeitung, Radio oder Fernsehen die Demokratie?
Pickel: "Ähnlich wie bei den sozialen Netzwerken. Diese Menschen leben in ihren Kreisen und denken, nur dort bekommen sie die Wahrheit angeboten. Sie empfinden deshalb, dass andere Medien nicht die Wahrheit sagen. Zu ihrer eigenen Wahrheit gehört eben auch, dass sie jahrelang belogen und betrogen worden sind. Und dann nimmt man eben öffentlich-rechtlichen Rundfunk nicht mehr wahr. Weil das 'Regierungsfernsehen' und 'Staatsfernsehen' ist, das sowieso 'schon immer die Unwahrheit erzählt' hat und damit auch nicht aufgehört hat. Und das hat jetzt nichts mit psychischen Störungen zu tun, sondern es hat etwas damit zu tun, in welchem Lebensumfeld man sich einrichtet, wo man sich wohlfühlt, wo man sich aufgehoben fühlt und informiert."
Wäre denn eine andere Gesellschaftsform möglicherweise gerade hilfreicher?
Pickel: "Nein! Viele Menschen fordern, mehr Gehör zu finden und mit der Politik enger verbunden zu sein. Es gibt keine andere Form politischer Herrschaft, die das einlöst. Es gibt keine Alternative zur Demokratie, wenn sich Menschen beteiligen sollen. Die einzige Alternative als Verbesserung der Demokratie sind Bürgerräte. Dort sitzen Menschen, die unsere Gesellschaft repräsentativ abbilden. Die besprechen dort die Anliegen. Die werden neutral informiert und die beraten über Themen. Ergebnisse sind in der Regel sehr ausgewogen. Jeder darf dort sprechen, keiner darf den anderen unterdrücken oder dominieren. Es funktioniert. Das sind Möglichkeiten, Demokratie zu verbessern. Und das ist nach meiner Ansicht die einzige Alternative zur Demokratie, wie wir sie gerade haben."
Das Interview führte Robert Schubert, NDR 1 Radio MV