Kommentar: Krudes Zeug in der Corona-Studie der Uni Hamburg
Der Physiker Roland Wiesendanger von der Uni Hamburg hat mit einer Untersuchung zum Ursprung des Coronavirus für Wirbel gesorgt. Er nennt dabei Indizien, liefert aber keine Beweise. Zudem werden wissenschaftliche Standards nicht eingehalten.
Ein Kommentar von Korinna Hennig, NDR Info
Man kann wirklich nur den Kopf schütteln über das, was hier passiert ist. Da sammelt ein Wissenschaftler, der in seinem eigentlichen Forschungsgebiet vermutlich durchaus seriös arbeitet, einfach alles zusammen, was er so finden kann zu der alten Laborthese und klebt das Etikett "Studie" drauf - ein Etikett, dem dieses Papier definitiv nicht gerecht wird. Und streng genommen sagt der Autor das sogar selbst, das ist die größte Merkwürdigkeit.
Der Physiker Roland Wiesendanger nämlich bemerkt, es handele sich um Indizien und keine "hochwissenschaftlichen" Beweise. Was heißt das denn? Der sprachliche Gegensatz wären "niedrigwissenschaftliche" Beweise. Was aber soll das sein? Eins ist sicher: Auch für mittelmäßige Erkenntnisse gelten im akademischen Zusammenhang wissenschaftliche Standards, und die werden hier definitiv nicht eingehalten.
Autor wie ein schlechter Boulevard-Journalist
Nicht nur, dass Herr Wiesendanger behauptet, interdisziplinär zu arbeiten, dann aber als alleiniger Autor auf dem Papier erscheint. Nicht nur, dass er allerlei krudes Zeug als Indizien heranzieht, bis hin zu YouTube-Videos aus zweifelhaften Zusammenhängen. An anderer Stelle arbeitet der Autor wie ein schlechter Boulevard-Journalist: Die seriösen wissenschaftlichen Studien, die er zitiert, sind größtenteils älter und damit, streng genommen, längst um die Ecke. Auch der Nobelpreisträger Luc Montagnier hatte sich vor längerer Zeit mal in einer ähnlichen Richtung geäußert, und seine Thesen waren - bei allem Respekt - von führenden Corona-Forschern als völlig abwegig verworfen worden.
Keine logische Kausalkette
Was das Konvolut allerdings toxisch macht, ist die Tatsache, dass natürlich nicht alle grundlegenden Informationen daran falsch sind, aber eben keine logische Kausalkette ergeben. Ja, die Laborthese konnte bislang nicht widerlegt werden, weshalb man sie noch nicht vollständig ad acta legen kann. Ja, China scheint nicht genug zur Aufklärung der Ursprungsfrage beizutragen. Ja, es ist noch kein Zwischenwirt für den Übergang von Fledermäusen auf den Menschen identifiziert worden. Und ja: Das Sars-2-Coronavirus hat mikrobiologisch gesehen Eigenheiten, die es von anderen Coronaviren unterscheiden - nur ist das alles noch längst kein Beleg dafür, dass es künstlich hergestellt worden wäre. Dass Viren sich auch im Rahmen der natürlichen Evolution verändern, ist eine Binsenweisheit, die in der Pandemie mittlerweile fast alle erreicht haben sollte.
Das Thema "Trägt jemand die Verantwortung für die Pandemie?" ist politisch viel zu brisant, um, salopp gesagt, mal eben so ein Sammelsurium an Vermutungen rauszuhauen.
Wundern über die Uni Hamburg
Man kann sich in dem Zusammenhang aber vor allem auch über die Universität Hamburg nur wundern. Nach welchen Kriterien werden dort eigentlich Pressemitteilungen herausgegeben? Die Pressestelle schreibt dazu im Wesentlichen nur, eine Zensur finde nicht statt. Natürlich ist ein Wissenschaftler frei in seiner Forschung. Er kann außerdem in seiner Freizeit Unsinn betreiben, so viel er will. Wenn aber eine Universität darauf verzichtet, unter ihrem Label eine so genannte "Studie" zu propagieren, die gar keine ist, dann hat das mit Zensur nichts zu tun.
Mehr Ressourcen für Wissenschaftsredaktionen
Aber auch wir Journalisten müssen uns natürlich kritische Fragen zu dem ganzen Vorgang stellen. Wir sollten uns immer - auch wenn der Absender scheinbar seriös ist - unserer eigenen Verantwortung bewusst sein, und die beinhaltet auch die Frage, ob man überhaupt berichtet. Nun ist das Kind sozusagen schon in den Brunnen gefallen. Zwei Dinge sollten wir uns deshalb einmal mehr klarmachen: Sorgfalt geht vor Schnelligkeit, gerade während der Corona-Pandemie. Und noch nie hat sich so deutlich gezeigt wie in dieser Zeit, dass es sinnvoll wäre, Wissenschaftsredaktionen mit mehr Ressourcen auszustatten.
Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie dieser Kommentar geben die persönliche Sicht der Autorin/des Autors wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sich Kommentare bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.
