Stand: 17.07.2022 06:00 Uhr

Kommentar: Großmäuligkeit ist kein gutes Rezept gegen den Ukraine-Krieg

Bleibt der Gashahn zu? Wird Russland wieder Gas liefern oder nicht? Fragen, die für Deutschland geradezu existentiell sind. Genau wie die Frage, wer die härteren Sanktionsmittel zur Hand hat. Der Aggressor Russland oder Deutschland, das die Ukraine unterstützt?

Ein Kommentar von Heribert Prantl, Kolumnist und Autor der "Süddeutschen Zeitung"

Der Journalist Heribert Prantl © Jürgen Bauer Foto: Jürgen Bauer
Deutschland müsse aus der Sanktionsspirale herauskommen, meint Heribert Prantl.

Noch ist Juli, noch ist es heiß, normalerweise denkt in dieser Hitze niemand an den Winter. Diesmal ist es anders. Diesmal fröstelt es einen, wenn man daran denkt, dass in drei Monaten die Heizperiode beginnt und in fünf Monaten der Winter. Im schlimmsten Fall drohen Deutschland Bilder und Zustände, wie man sie seit der Nachkriegszeit nicht mehr erlebt hat. Im schlimmsten Fall stehen Fabriken still, im schlimmsten Fall bleiben Millionen von Wohnungen eiskalt. Im schlimmsten Fall drohen Deutschland Katastrophenmonate, wie sie das Land seit dem Hungerwinter von 1946/47 nicht mehr erlebt hat.

Es drohen Bilder, wie wir sie nur aus dem Geschichtsbuch kennen

Es gibt nicht mehr so viele Bürgerinnen und Bürger, die sich daran erinnern. Ich kenne die Bilder vom Kälte- und Hungerwinter aus dem Münchner Archiv der "Süddeutschen Zeitung", es sind Bilder, wie wir sie in der SZ-Redaktion zur Illustration von Verfassungsjubiläen gern verwendet haben. Und darunter schrieben wir dann folgende Bildbeschreibung: "Es war eisig kalt, als vor 75 Jahren die Demokratie in Bayern vom Himmel fiel: zwanzig Grad Minus, die Abgeordneten des Landtags, der sich konstituierte, trugen Pelzmäntel. Weil die Aula der Universität, in der man sich versammelte, oben lediglich durch einen Bretterverschlag abgedeckt war, geriet der erste parlamentarische Akt der Nachkriegsdemokratie zu einer eisigen Angelegenheit". Noch ein anderes Bild fällt mir ein, eines aus dem Geschichtsbuch, eines aus dem Jahr 1921, ein Foto von einem Schild vor einer Arztpraxis. Darauf steht: "Die Patienten werden gebeten, infolge der Kohlenot zur Heizung des Wartezimmers bei jedem Besuch ein Brikett mitzubringen. Dr. med. Wagner." So war das damals.

Ohne das Gas aus Russland droht Deutschland eine schwere Rezession

Und heute? Das ganze Land bangt, ob Putin den Gashahn der Gasleitung Nord Stream 1 nach Deutschland abdreht beziehungsweise den Hahn nach der Reparatur gar nicht mehr aufdreht. Ersetzen lässt sich das russische Erdgas nur mittelfristig, der Energieträger Erdgas überhaupt lässt sich nur langfristig ersetzen. Ohne das Gas droht Deutschland eine schwere Rezession. Das Bangen und Barmen, ob Putin und der Kreml sich als gnädig erweisen und das Gas liefern - dieses Bangen und Barmen erstaunt schon sehr, wenn man sich daran erinnert, dass deutschland- und europaweit noch vor einigen Wochen darüber diskutiert wurde, ob man die russischen Gaslieferungen nicht komplett boykottieren sollte. Jetzt, wenige Wochen später, hat man den Eindruck, dass bei solchen westlichen Drohungen und bei dem Sanktionsregime gegen Russland einige Großmäuligkeit im Spiel war. Das "Handelsblatt" schrieb: Als hätte sich Putin von den Winterkatastrophen-Szenarien inspirieren lassen, "hat er nun den Spieß umgedreht".

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Rohrsysteme und Absperrvorrichtungen in der Gasempfangsstation der Ostseepipeline Nord Stream 1 und der Übernahmestation der Ferngasleitung OPAL (Ostsee-Pipeline-Anbindungsleitung) sind vor Sonnenaufgang zu sehen. © dpa Foto: Jens Büttner

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Empörung über Putins Gas-Drosselung ist Heuchelei

Der völlige Stopp der Gaslieferungen sei Teil der russischen Strategie, "unsere Einheit zu untergraben", sagt Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne). Das ist nicht ganz richtig so; es war und ist Teil der westlichen Strategie, russische Exporte komplett zu unterbinden. Es war das westliche Kalkül, mit den Sanktionen Russland schwer zu schaden. Nun könnte sich herausstellen, dass die Sanktionen beziehungsweise deren Folge- und Kollateralschäden jedenfalls Deutschland schwerer schaden als Russland. Man kann diese Schäden als Preis für die Gegenwehr gegen Putins Verbrechen akzeptieren - aber dann muss die deutsche Politik das offen kommunizieren. Sie kann nicht so tun, als ob sie von Putins Reaktion auf die westlichen Sanktionen völlig überrascht worden wäre. Sie konnte nicht erwarten, dass Putin sich für die Sanktionen und Boykotte mit üppigen Gaslieferungen bedankt. Die Empörung über Putins Agressionsverbrechen ist ungeheuer wichtig und berechtigt. Die Empörung über Putins gedrosselte Gaslieferungen aber ist Heuchelei.

Die Spirale von Sanktionen beendet den Krieg nicht

Es gab und gibt im Westen ursprünglich die Erwartung oder jedenfalls die Hoffnung, dass die Sanktionen in Russland eine Stärkung der dortigen Opposition bewirken. Aber es ist das Gegenteil der Fall; sehr viele Menschen in Russland fühlen sich von den westlichen Sanktionsstaaten angegriffen und gedemütigt - und binden sich noch stärker an Putin als bisher. Was tun? Noch mehr Sanktionen? Ich sehe nicht, dass die Spirale von Sanktionen und Gegensanktionen, ich sehe nicht, dass die Auflösung von Institutionen hier und dort, dass die gegenseitige Ausweisung der Diplomaten helfen könnte, den Krieg zu beenden oder wenigstens zu verkürzen. Irgendjemand wird die Gespräche, die zur Beendigung des Krieges führen, ja führen müssen. Irgendjemand wird dafür sorgen müssen, dass es dann friedlich weitergeht. Wer soll das tun, das frage ich mich, wer soll diese Gespräche vorbereiten, wenn alle Gesprächskanäle zugeschüttet sind? Ich glaube, dass wir, bei aller Verurteilung des Putin-Kriegs, herauskommen müssen aus der Sanktionsspirale.

Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie dieser Kommentar geben die persönliche Sicht der Autorin / des Autors wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sich Kommentare bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.

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NDR Info | Kommentar | 17.07.2022 | 09:25 Uhr