Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), spricht mit Außenministerin Annalena Baerbock (Bündnis90/Die Grünen), die mit dem Rücken zur Kamera steht. © picture alliance/dpa/dpa-pool | Michael Kappeler Foto: Michael Kappeler

Kommentar: Deutschland muss jetzt eine führende Rolle übernehmen

Stand: 26.06.2022 00:00 Uhr

Erst der G7-Gipfel im bayrischen Elmau, dann der NATO-Gipfel in der spanischen Hauptstadt Madrid - die kommenden Tagen werden zeigen, wie stark der Westen in der Auseinandersetzung mit dem kriegstreibenden Russland ist. Welche Rolle kann und muss Deutschland außenpolitisch einnehmen?

Der NDR Info Wochenkommentar von Gordon Repinski, stellvertretender Chefredakteur von "The Pioneer"

Olaf Scholz musste in dieser Woche vorsichtig sein. Alle um ihn herum hätten schon Corona gehabt, frotzelte der Kanzler in internen Sitzungen, nur er selbst habe es noch nicht. Und wie bedauernswert wäre es auch, wenn Scholz es gerade jetzt erwischt hätte. Denn er steckt nach wenigen Monaten im Amt mitten in einem internationalen Programm, das manche Kanzler in einer ganzen Legislaturperiode nicht zu schultern hatten.

Alles begann mit dem EU-Gipfel in Brüssel und der Beitrittsperspektive für die Ukraine. An diesem Wochenende folgt der G7-Gipfel in Elmau, bei dem Scholz die Mächtigen der Welt begrüßt. Und schließlich geht es nach Madrid, wo geklärt wird, ob sich die NATO um Schweden und Finnland erweitern wird.

Scholz ist also mittendrin in den Wochen, in denen sich geopolitisch vieles neu sortieren wird. Und in denen sich klärt, welche Art von Führung eigentlich in Zukunft von Deutschland zu erwarten ist.

Deutschland als Führungsmacht in zukünftigen Krisen?

Gordon Repinski stellv. Chefredakteur und Leiter d. Hauptstadtbüros vom RND RedaktionsNetzwerk Deutschland © RND RedaktionsNetzwerk Deutschland Berlin GmbH Foto: Maurice Weiss
Bundeskanzler Scholz wird über sich hinauswachsen müssen, meint Gordon Repinski.

Dabei muss der Kanzler auch mit etwas aufräumen, das auch mancher in seiner eigenen Partei bemängelt hat: Die Frage nämlich, was eigentlich aus der von ihm erklärten "Zeitenwende" folgt. Denn mangels der Erläuterung ist es bisher ein eher innenpolitisches Projekt geblieben. Es gibt eine Menge Geld für die Bundeswehr, aber was das genau strategisch zu bedeuten hat, diese Erklärung ist Scholz bislang schuldig geblieben.

Wird Deutschland also Führungsmacht in zukünftigen Krisen, wie es Parteichef Lars Klingbeil in dieser Woche erklärte und damit den Kanzler sogar rechts überholte? Oder bleibt Deutschland ein Land, das lieber weiter aus der Mitte führt, mit Stützrädern also links und rechts?

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Welche Rolle spielen die BRICS-Staaten?

Die Weltlage ist ernst wie lange nicht. Mit der Drosselung der Gaszufuhr zeigt Russland Deutschland nicht nur, was die Realität von schmerzhaften Sanktionen auch hierzulande bedeuten wird.

Es stellt sich auch eine Grundfrage: Ist der Westen resilienter gegenüber einer geopolitischen Krise, wie wir sie jetzt erleben? Oder ist es womöglich die andere große Machtgemeinschaft, die sich als parallele Veranstaltung zu G7 formiert - die BRICS-Staaten nämlich, mit Brasilien, Russland, China, Indien und Südafrika? Denn dort hat Russland verlässliche, neue Abnehmer für Gas und Öl gefunden. Wachstumsmärkte. Milliarden Menschen leben in diesen Ländern. 

Ist der Westen stark genug in seinem Wertesystem?

In diesen Wochen und Monaten entscheidet sich, ob der Westen mit seinem Wertesystem stark genug ist. Denn was wäre eigentlich, wenn Deutschland einen Winter ohne Gas erlebt, die Industrie womöglich zum Teil kollabiert - und Russland die Einnahmeverluste in Indien und anderen Ländern entspannt kompensiert?

Das wäre die wahre "Zeitenwende". Es wäre der Moment, in dem der Westen sichtbar unterlegen wäre, indem wir in Deutschland Stimmen hören würden, die vermehrt sagen würden: Na gut, Russland vertritt nicht unsere Werte und der Präsident überfällt Länder in Europa, aber wir schaffen es nicht ohne die Rohstoffe. Es wäre eine Form der Kapitulation.

Auch Deutschland steht extrem unter Druck

Soweit muss es nicht kommen. Es gibt viele andere Optionen, wie es sich weiter entwickeln kann. Aber wie ernst es um diese Welt gestellt ist, wie sehr der Westen, wie sehr auch Deutschland unter Druck steht, das wird deutlich. Es gibt keine Alternative mehr zu außenpolitischer Stärke, zumindest, wenn wir diese unsere liberale Demokratie verteidigen wollen. 

Geopolitischer Umbruch seit dem 24. Februar

Der Pazifismus ist nämlich ein schöner Gedanke. Aber wer ihn will, der muss akzeptieren, dass dann diejenigen mit den Waffen den Ton angeben. Scholz hat das im Innersten verstanden. Dass die Ukraine Beitrittskandidat für die EU geworden ist, das ist auch sein außenpolitischer Erfolg. Das war Führung. Aber in welcher ernsten Lage wir stecken, welchen geopolitischen Umbruch wir gerade und seit dem 24. Februar erleben, das mag Scholz und seinen außenpolitischen Beratern klar sein; der Bevölkerung ist es das noch lange nicht.

Und damit erweitert sich das Aufgabenspektrum des Kanzlers für die nächsten Monate. Er muss die Bevölkerung mitnehmen. Er muss erklären, was passiert. Denn dieser Wandel wird nicht spurlos an der deutschen Gesellschaft vorbeigehen. Wir stehen in diesem Winter wohl vor einer Energiekrise, die man nicht mit Entlastungspaketen lösen kann. Es ist womöglich eine Krise, die größer ist als alles, was wir bisher erlebt haben.

Scholz wird über sich hinauswachsen müssen

Die Kanzlerschaft von Olaf Scholz wird sich schon in den nächsten Monaten in eine Richtung bewegen. Der nüchterne Polit-Bürokrat Scholz wird sich wandeln und über sich hinauswachsen müssen. Und wie er das meistert, das wird seinen späteren Eintrag in die Geschichtsbücher definieren.

Scheitert Scholz - oder wird er ein großer Kanzler, der in der epochalsten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg diesem Land Werte, Wohlstand und Zukunft gesichert hat?

Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie dieser Kommentar geben die persönliche Sicht der Autorin / des Autors wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sich Kommentare bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.

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NDR Info | Kommentar | 26.06.2022 | 09:25 Uhr