Stand: 04.09.2016 11:04 Uhr

Philipp Schmids Pilgerblog: "Reich beschenkt"

von Philipp Schmid

Tag 4

Zeit für Neues. Hätte man in diesen Tagen nicht etwas Außergewöhnliches, etwas Spektakuläres machen können? Eine Reise nach Bali oder nach New York? Mal abgesehen davon, dass wir fünf uns niemals zu einer solchen Reise zusammengefunden hätten - ich glaube, jeder von uns würde sagen: "Nein!"

Diese ständige Suche nach neuen Reizen, neuen Eindrücken, neuen Kicks macht uns blind für das Schöne vor der eigenen Haustür. Und für das Schöne in uns. Unterwegs ist uns viel begegnet, Menschen, Natur - während wir von einer Beobachtung zur anderen laufen, werden wir sensibel. Ich bin in den letzten Tagen sehr sensibel geworden - und eigentlich verwenden wir das Wort falsch. "Ui, der ist sensibel, da muss man aufpassen!" Nein. Die Sinne weit zu machen, Augen Nase Mund und Ohren aufzusperren, führt uns zu uns selbst.

Wie Marcel Proust geschrieben hat: "Die wahre Entdeckungsreise besteht nicht darin, dass man neue Landschaften aufsucht, sondern darin, mit frischen Augen zu sehen." Auf dem Weg kommen wir zur "Besinnung" - nehmen wahr, was um uns herum ist. Mein morgendliches Erlebnis mit einem krähenden Hahn habe ich in Grimmen der Küsterin erzählt, die geantwortet hat: "Ach, den hör ich schon gar nicht mehr.“

Wann verlernt man Staunen? Wann kommt die Zeit im Leben, dass wir sagen, "Kenn ich schon, weiß ich schon, alles schon mal dagewesen."? Bei meinen Kindern kann ich wieder staunen lernen. Ich werde nie das Gesicht meiner kleinen Tochter vergessen, als sie zum ersten Mal in eine Banane gebissen hat. Ich habe hier die herrlichsten Birnen, Pflaumen und Mirabellen direkt vom Baum gegessen. In manchen Momenten bin ich ganz klar. Wenn ich frühmorgens als erster aufstehen, draußen sitze, die Welt spüre, kann ich die ganzen Erlebnisse, Erfahrungen, Gefühle praktisch vor mir sehen - aber wenn ich danach greife, zerfällt dieser Kosmos wieder in einzelne Teile.

Wir haben uns sehr gut kennengelernt auf dieser Reise - ich könnte zu jedem der vier anderen auf Anhieb zehn Charaktereigenschaften und Eigenheiten nennen. Ein wenig fürchte ich mich davor, dass von diesen vielen Facetten, die ich auch an mir entdeckt habe, dann doch wieder nur ein Teil bleibt, der kein ganzes Bild ergibt. Es ist außergewöhnlich - und Gewohnheit ist der Feind des Staunens. Das Bekannte neu erleben, im Alltag das kleine Glück entdecken, sein Leben mit vielen besonderen Momenten verbinden, das hebt die Zeit auf. Wie kleine Steine über einen Fluss, die uns zu neuen Ufern bringen. Jeden Tag dasselbe tun müssen - damit müssen wir leben. Noch schlimmer ist allerdings: Jeden Tag dasselbe denken und fühlen. Es gibt Wege.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Matinee | 31.08.2016 | 09:20 Uhr

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