M’era Luna 2022: Fesselspiele und Tränenmeer
Das Festival in Hildesheim bietet wie kaum ein anderes spektakuläre Nebenschauplätze. Vor der Bühne kam es am Sonntag noch einmal zu einem großen Gänsehautmoment.
"Hit me baby, one more time!" - Britney Spears auf dem M’era Luna? Nicht ganz. Aber das Spaß-Cover der Eröffnungsband Hell Boulevard am Festival-Sonntag schafft auf jeden Fall eins: Einem Teil der von der Party-Nacht noch schläfrigen Festival-Besucher ein verdutztes Grinsen auf’s bleich geschminkte Gesicht zu zaubern. Der ein oder andere Goth enttarnt sich dabei ganz unfreiwillig als Radio-Pop-Fan. Der Großteil der Festivalbesucher ist zu dem Zeitpunkt aber entweder noch im Zelt und schläft den Met-Rausch aus oder frönt einem der unzähligen Nebenattraktionen des Festivals.
Fesselspiele im Japan-Style
Und das M’era Luna wäre nicht das M’era Luna, wenn das Luftballons Aufblasen oder Bier-Pong bedeuten würde! Schon mal was von Shibari gehört? Nein, das ist keine japanische Papierfalt-Kunst. Wobei: Kunst schon irgendwie. Und japanisch auch. Aber der Reihe nach. Die meisten der rund 600 Besucher, die gegen Mittag im Flugplatz-Hangar mitten auf dem Festival-Gelände Platz genommen haben, sind den Blicken nach wohl auch nicht so sicher, von was sie da gerade Zeuge sind. Eine Massage-Übung vielleicht? Zumindest kniet da eine junge, blonde Frau auf der Bühne. Hinter ihr ein Mann mit Rauschebart und schwarzem Gewand, der sie im Takt gemächlicher Trommeln hin und her zu kneten scheint. Plötzlich packt er ein Seil aus, beißt hinein und wickelt das Tau in engen Schlingen um Brustkorb und Arme seines "Opfers". Hände auch. Und damit nichts wackelt, vorsichtshalber Beine und Füße gleich mit.
Spätestens als die Dame auch noch zwischen drei Holzpfosten nach oben gezogen wird und nur an ihren Fesseln baumelt, sind Hunderte Münder im Publikum sperrangelweit offen. Zu Recht. Denn das Gezeigte erfordert Können und Übung. Der Mann mit dem Bart ist eine Art Meister im Shibari, der japanischen Kunst des Fesselns. Und er gibt offen zu: Das Ganze ist nichts fürs konservative Schlafzimmer - ein sexueller Fetisch für spezielle Geschmäcker eben. "Es ist das Spiel von Macht und Kontrolle, was daran reizt", sagt der Shibari-Meister, der seinen echten Namen für sich behält. Das Spiel reizt ganz offenbar ziemlich viele: Studenten, Ärzte und sogar Finanzbeamte gehören nach eigener Aussage zu seinem Kundenkreis. Und auch seine blonde Showpartnerin, mittlerweile wieder entfesselt, gibt zu: "Dabei rauschen schon ordentlich Dopamine durch meinen Körper!" Aber tut das Einschneiden der Seile nicht weh? "Ja, das ist es ja!", sagt sie. Willkommen auf Tag Zwei eines der kuriosesten Festivals überhaupt.
Eisenteufel zu verkaufen
Auch die Shops auf dem Festival-Gelände sind nichts für Normalos. Logisch, dass es auf einem Gothic-Festival vom Nieten-BH über Grusel-Schminke bis hin zu Masken mit überlanger Gummi-Nase alles zu kaufen gibt. Aber einen Holz-Badezuber, bei dem man mit anderen Besuchern ein entspannendes Kräuterbad nehmen kann? Eine Eisdiele mit pechschwarzem Vanille-Softeis? Wo gibt es das schon?
Einer der optisch krassesten Stände aber ist der von Mike Rademacher: Da glotzt schon mal ein drei Meter großer Eisenteufel düster auf die vorbeilaufenden Besucher herab. Oder ein "Alien" aus der gleichnamigen Filmreihe - fast lebendig ausschauend - droht mit einem Kuss, den man eigentlich nicht haben möchte. "Wow, das ist echte Kunst!", sagt eine staunende Besucherin. Dabei ist der Erschaffer der Werke kein typischer Künstler. "Ich habe eigentlich mal Kunststoffschlosser gelernt", sagt Mike Rademacher. Auf vielen Reisen durch die Welt habe er sich dann inspirieren lassen, etwas Besonderes zu schaffen. Und in seinem Fall bedeutet das: Aus Metall-Schrott die spektakulärsten Formen und Figuren zu schaffen.
Der Teufel zum Beispiel besteht unter anderem aus Kolben von einem Mofa und Federn und Bremsbelege aus ausgemusterten Autos - alles in seiner Braunschweiger Garage gebogen, geschweißt und gedengelt und in rund 200 Stunden Handarbeit zu einem Dämon mit Hörnern geformt. Die Festival-Besucher sind fasziniert. "Was kostet denn sowas?", ist eine Frage, die Rademacher oft hört. 8.000 Euro müsse er für so eine große Figur schon verlangen, entgegnet er Braunschweiger - und das decke gerade so die Kosten. Aber mit seiner Kunst wolle er auch kein Krösus werden. "Wenn ich allerdings für jedes Festival-Foto meiner Figuren zehn Cent nehmen würde, wäre ich schon stinkreich!"
Tränen und schwarze Schminke
Aber beim Festival ist auch Platz für Gefühle andere Art. So sorgt der Act VNV Nation am Sonntagnachmittag für einen echten Gänsehaut-Moment: Als harter Kontrast zum restlichen Line-up tritt Sänger Ronan Harris in Begleitung eines Sinfonie-Orchesters auf und singt sich mit hörbar ergriffener Stimme in die Herzen der Menge. Wo eine halbe Stunde zuvor noch gesprungen und gewippt wurde, sieht man plötzlich Männer, die ihre schluchzende Partnerin in den Arm nehmen. Und Freundinnen, die einander mit dem Taschentuch die von Tränen verlaufene Mascara wegtupfen.
Ticketverkauf für M’era Luna 2023 startet
Lange hält die Stille nicht. Schon bei den Mittelalter-Rockern von Schandmaul geht das Tanzen weiter. Wie man den Emotions-Schalter bei Publikum umlegt, das wissen die Münchener Musiker - schließlich sind sie seit vielen Jahren Stammgäste beim M’era Luna. Überhaupt gehört der Sonntagabend vor allem den Klassikern und den großen Namen: Sisters Of Mercy - immerhin seit über 40 Jahren im Geschäft - sorgen mit einem Hit-Feuerwerk für Mitsing-Chöre. Und als das letzte "I want mooooore!" kaum verhallt ist, legt die Band Eisbrecher als Headliner noch einen drauf und in einem letzten Kraftakt hüpfen rund 25.000 Musik-Fans zu treibenden Beats und drückenden Gitarren noch einmal im Takt. Nach nur 48 Stunden ist das M’era Luna schon wieder vorbei. Was bleibt ist die Gewissheit: Die schwarze Szene ist quicklebendig - auch nach zwei Jahren Pandemie. Und sie ist genau so spektakulär, bunt und vielfältig wie zuvor. Da passt es, dass bereits die ersten Bands für das kommende Jahr bestätigt sind und auch der Ticketverkauf für M’era Luna 2023 startet. "Hoffentlich kommt nicht nochmal sowas wie Corona dazwischen", kommentierte ein Fan. "Bei aller gothic-typischen Todesromantik: Das würde ich nicht überleben!"