Ohne Schiff, aber mit Mülltüten: "Der fliegende Holländer" in Hamburg
Michael Thalheimer traut sich was: Ausgerechnet in Hamburg inszeniert der bekannte Regisseur den "Fliegenden Holländer" von Richard Wagner abstrakt und ganz ohne Schiff auf der Bühne. Das Premierenpublikum in der Staatsoper ist gespalten.
Auf der Bühne ist kein Schiff in Sicht. Nicht mal eine Planke. Stattdessen sind hunderte Fäden wie Harfen-Saiten von der Decke bis zum Boden gespannt. In diesem Schnüren-Labyrinth verlieren sich die Figuren, sie verheddern sich, verstecken sich und hängen drin wie Marionetten. Dieses abstrakte Bühnenbild von Olaf Altmann mit vielen raffinierten Lichteffekten (Stefan Bolliger) und einer Handvoll Gold-Konfetti als einzigem Requisit ist ein echter Coup und für dieses Psycho-Kammerspiel genau richtig.
Liebesduett in den Seilen
Es ist schon wirklich gruselig, wenn der bärtige, zynische, runtergerockte Holländer, der verflucht ist, über die Weltmeere zu schippern, bis er eine Frau trifft, die ihm treu ist, mit seiner Zombie-Mannschaft auf die Bühne kommt und sich durch das Fäden-Dickicht drängt. Thomas Johannes Mayer singt und spielt den Holländer wunderbar düster. Ergreifend wie er und Senta in diesen Seilen hängend, fixiert und isoliert einander begegnen und ein Liebesduett ohne Liebe singen.
Müllbeutel-Exegese im Opernfoyer
Rätselhaft dagegen die Sache mit den Müllbeuteln. Jennifer Holloway steckt als Senta schon während der Ouvertüre in einem schwarzen Müllsack fest und kann sich erst nach Minuten wie aus einem Kokon befreien. Später peitscht auch die Zombie-Mannschaft des Holländers die raschelnden Beutel in einer Art Abfalltüten-Choreographie im Takt zur Musik Richard Wagners. Plötzlich befindet man sich nach der Vorstellung im Foyer mittendrin in einer lebhaften Mülltüten-Exegese. "Der Müllbeutel ist die Depression der Senta", mutmaßt eine Zuschauerin. "Sie ist am Rande des Wahnsinns. Erst kann sie sich von dem Müllsack befreien, am Ende bringt sie sich damit um." Aha.
Chor ist Publikumsliebling
Die Stimmen sind an diesem Abend der wunderbare Kern des Ganzen. Jennifer Holloway, die zum ersten Mal die dem verfluchten Seemann verfallene Senta singt, brilliert nicht nur in ihrer dramatischen Ballade vom "Fliegenden Holländer". Der Tenor Benjamin Bruns als Erik bringt noch im vierten Rang die Trommelfelle zum Klingeln. Kwangchul Youn singt Sentas Vater Daland so kraftvoll und präzise, dass man jedes Wort versteht. Publikumsliebling ist aber der Opernchor - unterstützt von Sängerinnen und Sängern aus Kiew.
Wie eine Gruselgeschichte am Lagerfeuer
Der Chor leuchtet sich wie bei einer Gruselgeschichte am Lagerfeuer mit Taschenlampen ins Gesicht, als die beiden Schiffsbesatzungen gegeneinander singen, und es ist Testosteron in Tönen, als sich die Zombie-Mannschaft des Holländers durchsetzt. Während der Frauenchor beim Spinnrad-Song ("Summ und brumm") Senta aufgeregt bedrängt und piesackt, stehen die Holländer-Zombies immer wieder brav wie bestellt und nicht abgeholt in Zweierreihen im Hintergrund herum oder fuchteln irgendwie mit den Händen in der Luft. So ein richtig durchgehend gutes Gespür für Massenszenen hat diese Inszenierung nicht.
Buhrufe für Regisseur und Dirigent
Für das Regieteam um Michael Thalheimer gibt es am Ende leidenschaftliches Buh und enthusiastisches Bravo im Widerstreit. Auch Generalmusikdirektor Kent Nagano hat einiges Missfallen von Teilen des Publikums abbekommen. Sicher hätte man noch mehr Spannung, noch mehr Psycho-Drama in die Musik legen können. Auf der Stuhlkante hat man bei diesem Holländer tatsächlich nicht immer gesessen. Aber mit diesem starken Ensemble entsteht dennoch immer wieder ein herrlich schauriger Sog. Dann hat dieser entschlackte, kitschbefreite, ausgerechnet in Hamburg schifflose Holländer echtes Psycho-Thriller Potenzial.
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