Kirill Serebrennikow: "Ich suche nach der Poesie des Paradoxen"
Nach vier Jahren strikten Reiseverbots durfte der russische Theaterregisseur Kirill Serebrennikow ausreisen - um das Theaterstück "Der schwarze Mönch" am Hamburger Thalia Theater zu Ende zu proben.
Freiheit, sagt Kirill Serebrennikow, trage er immer in sich, die bekomme er nicht von außen. Eineinhalb Jahre stand er unter Hausarrest in Moskau - der Vorwurf: Veruntreuung von Geldern. Er hat die Zeit genutzt, hat ziegelsteinschwere Bücher gelesen und Stücke geschrieben. "Ich dachte darüber nach, wie es ist zu leben, statt zu sterben", sagt er.
Arbeiten konnte er auch in den eigenen vier Wänden, via Zoom. Aber nach vier Jahren strikten Reiseverbots konnte er nun Russland verlassen, um wieder direkt vor Ort zu inszenieren, im Hamburger Thalia Theater.
Präzision und Anarchie
Kirill Serebrennikow sitzt mitten im Parkett, umgeben von seinem Team. Auf der Bühne drehen sich Mönche in langen schwarzen Kutten im Kreis, Windgeräusche liegen über der Szene, auf kreisrunde Holzscheiben werden Videos im Stil expressionistischer Stummfilme geworfen. "Das Stück 'Der schwarze Mönch' entstand aus der Idee, dass Tschechows letzte Worte vor seinem Tod 'Ich sterbe' waren, auf Deutsch! Weshalb?"
Synchrone Gesten voller Wucht, Präzision und Anarchie, beides im ständigen Dialog. Tänzer, Sänger, Schauspielerinnen: Das Ensemble ist russisch-deutsch, vom Thalia Theater mit dabei ist auch Mirco Kreibich: "Es geht um einen Mann, der am Rand steht, zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Vergangenheit und Zukunft", erzählt Serebrennikow. "Er muss herausfinden, wo sein Wahnsinn liegt - und wo seine Normalität."
Kirill Serebrennikow: "Ich liebe Paradoxe"
Eine gute Geschichte für die Zeit nach Corona, sagt der Regisseur: dann, wenn wir alle unsere Leben wieder neu aufbauen müssen. Denn irgendwie sei unsere begrenzte Gegenwart ein einziges Paradox, das uns nah an den Wahnsinn bringe.
"Ich liebe Paradoxe", gesteht Serebrennikow. "Kunst arbeitet immer auf der Ebene des Paradoxen, ich suche nach der Poesie des Paradoxen, seiner Essenz, will es visualisieren. Das Paradoxe bringt uns nah an den Wahnsinn - aber den mag ich, weil man damit das ganz starre System des Menschen neu erfinden kann."
Kirill Serebrennikow will Mauern sprengen
Englische, deutsche, russische Sprachfetzen hallen durch den Saal: Kirill Serebrennikows Stück ist multilingual: Das, sagt er, ist ihm immer wichtig gewesen, dass Theater an keiner Sprachgrenze haltmacht. Musik, Tanz, Videos - er will Mauern sprengen.
Am rechten Handgelenk trägt Kirill Serebrennikow eine Uhr, aber die Uhr besteht nur aus einem Rahmen ohne Ziffernblatt - wie ein Zeitmesser ohne Zeit: "Ich lebe von Tag zu Tag. Nach meiner Erfahrung ist es die beste Strategie, im Moment zu leben: Hier bin ich, ich bin in Hamburg, ich arbeite, ich tue das, was ich am allerschönsten auf der ganzen Welt finde. Wir machen Theater zusammen, mit einer Gruppe sehr talentierter Leute an einem der besten Theater der Welt. Und das ist es." Er nennt sich selbst ein Arbeitstier. Über Gefühle will er nicht allzu viel nachdenken.
"Ich gehe auf jeden Fall zurück"
Wie die plötzliche Entscheidung für seine Ausreise gefallen ist, weiß er nicht. Vielleicht war er ein "guter Junge", sagt er schmunzelnd. Die Entscheidung fiel kurz nach Neujahr. Er hatte, wie früher auch, einen Antrag zur Ausreise gestellt, um für einige Zeit zu arbeiten.
Kirill Serebrennikow wählt seine Worte vorsichtig. Auf die Frage, ob er nach Russland zurückkehren werde, reagiert er aber entschieden: "Auf mich kann man sich verlassen. Die Leute, die mir erlaubt haben auszureisen, haben möglicherweise auch viel riskiert. Ich will kein Bastard sein, der einfach darauf pfeift. Ich gehe auf jeden Fall zurück. Weil ich muss."
Ob er Angst habe, wird er noch gefragt? Klare Antwort: "Nein.
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