Szene aus dem Theaterstück "Is This A Room" © Gianmarco Bresadolan/Festival "Theaterformen" Foto: Gianmarco Bresadolan

Festival "Theaterformen" startet in Braunschweig

Stand: 30.06.2022 06:00 Uhr

Das internationale Theaterfestival "Theaterformen", das jährlich im Wechsel in Hannover und Braunschweig stattfindet, präsentiert an insgesamt elf Tagen in Braunschweig experimentelle Inszenierungen.

von Janek Wiechers

Im Sommer 2017 verhaften Beamte des US-amerikanischen Bundespolizei FBI die 25-jährige Reality Winner in ihrem Haus und verhören sie noch an Ort und Stelle. Später wird die Whistleblowerin zu 3 Jahren Haft verurteilt. Die Analystin der US-Air Force hatte vertrauliche Dokumente veröffentlicht, aus denen hervorging, wie Russland Einfluss auf den US-Präsidentschaftswahlkampf nahm.

Regisseurin Tina Satter hat aus den Vernehmungsprotokollen des FBI ein packendes Bühnenstück gemacht. Mit "Is This A Room" eröffnen die diesjährigen "Theaterformen" in Braunschweig. Festivalleiterin Anna Mülter findet: "Das ist ein Stück, das kommt aus New York. Das hat da in der freien Szene Premiere gehabt. Dann hat das den Weg über den Off-Broadway bis hin zum Broadway gemacht. Das heißt, da haben wir tatsächlich bei den 'Theaterformen' zum ersten Mal ein Broadway-Stück zu Gast - aber mit einem für den Broadway ganz untypischen Inhalt."

Internationales Theater um Gewalt und Schmerz

Insgesamt 19 Produktionen aus zwölf Ländern sind bis zum 10. Juli beim Festival zu erleben. Die Theaterkollektive und Einzelkünstler reisen unter anderem aus Brasilien, Marokko, Moldau, Mali, Chile und aus Kanada an. Deren Inszenierungen versteht Intendantin Mülter im besten Sinne als politisches Theater. Inhaltlich geht es viel um Gewalt und Schmerz, aber auch um deren Gegenentwürfe und die Frage, wie eine bessere Welt funktionieren kann.

Alle Produktionen setzen sich mit Themen der Gegenwart auseinander. "Was mich leitet in meiner Suche nach dem Programm ist die Frage, von welchen Perspektiven hören wir vielleicht auch weniger in der Gesellschaft," sagt Mülter. "Deswegen lege ich einen Schwerpunkt auf Künstlerinnen of colour, behinderte Künstlerinnen. Um da auch ein bisschen Gegengewicht zu setzen zu einem Mainstream, der oft ein bisschen zu wenig hinterfragt wird."

"Theaterformen" sucht nach alternativen Inszenierungen

Szene aus Theaterstück "Carte Noir Nommée Désir" © Vincent Zobler/Festival "Theaterformen" Foto: Vincent Zobler
Szene aus Theaterstück "Carte Noir Nommée Désir"

"Carte Noir nommée désir" ist so ein Stück. Ein Beitrag der Theatermacherin Rébecca Chaillon aus Paris. Ihre achtköpfige Schauspieler-Kompagnie setzt sich auf sehr körperliche Weise mit der klischeehaften und sexistischen Betrachtung schwarzer Frauen-Körper auseinander: "Das sind alles schwarze Frauen, die da auf der Bühne sind. Da beziehen sie sich ganz speziell auf Werbung. Die Werbung, die es so für Kaffee gibt, für Schokolade, für Kakao. Wo oft mit schwarzen, weiblichen Körpern gearbeitet wird. Das kritisieren diese Performerinnen nicht nur, sondern sie nehmen sich diese Stereotype, eigenen sich die mit einer ganz großen Ironie an. Das ist ein großer, opulenter Abend."

Das Experiment wird bei den "Theaterformen" großgeschrieben. Der Name ist Programm. Es geht um verschiedenste Formen, um alternative Weisen der Inszenierung. Das Festival hinterfragt laut Leiterin Anna Mülter, was Theater abseits eines etablierten, klassischen Sprechtheaters sonst noch alles zu bieten hat: "Was wir vielleicht auch nicht so auf den ersten Blick als Theater identifizieren würden. Stücke die dokumentarisch und aus einer eigenen biografischen Erfahrung heraus arbeiten. Natürlich ist das auch oftmals mit einer Kritik verbunden - aber auch mit einer Vision von anderen Formen des Zusammenlebens."

Fokus beim Festival auf Barrierefreiheit

Dabei überschreitet das Festival immer wieder kleinere und größere Grenzen. Das Stück "Nurture" gehört sicherlich dazu. Um die Inszenierung zu erleben, müssen die Besucherinnen und Besucher aus ihrer eigenen Komfortzone heraustreten. Der finnische Theatermacher Samuli Laine lädt sie einzeln zu einer intimen, etwa 20 Minuten dauernden, theatralischen Begegnung ein, so Mülter: "Man bekommt das Angebot sich stillen zu lassen. Also etwas, das man als Mensch nur erlebt in einer Zeit, an die man sich nicht mehr erinnern kann. Und er möchte damit die Frage stellen, wie wir eigentlich mit Fürsorge in der Gesellschaft umgehen. Sind wir eigentlich bereit Fürsorge zu geben und auch anzunehmen?" Statt Muttermilch fließt bei Samuli Laines Performance finnischer Birkensaft aus einer künstlichen Brustwarze - eine Flüssigkeit, die in der finnischen Mythologie eine tiefe Bedeutung hat.

Besonderen Wert legt das Festival "Theaterformen" in diesem Jahr auf das Thema Barrierefreiheit. So gibt es unter dem Titel "A Gathering In A Better World" ("Ein Treffen in einer besseren Welt") ein kleines Festival im Festival. Es bietet spezielle Theater-Angebote, die besonders auch für Menschen mit Einschränkungen geeignet sind: Audiodeskriptionen für Sehbehinderte zum Beispiel. In anderen Vorführungen dürfen Besucher, die aus gesundheitlichen Gründen nicht lange sitzen oder still sein können, Krach machen und zwischendurch rausgehen.

 

Weitere Informationen
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Festival "Theaterformen" startet in Braunschweig

Das internationale Theaterfestival findet in diesem Jahr in Braunschweig statt und präsentiert an elf Tagen experimentelle Inszenierungen.

Art:
Bühne
Datum:
Ende:
Ort:
Staatstheater Braunschweig
Am Theater
38100 Braunschweig
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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Klassisch in den Tag | 30.06.2022 | 07:20 Uhr

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Theater

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